Als schliefe sie
verschwunden.
Kam Nadschîb am folgenden Tag zu Besuch, mied ihn Milia. Sie weigerte sich, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Erst wenn der Traum von einem neuen fortgewischt war, wandte sie sich ihm wieder zu.
»Was war eigentlich gestern mit dir?«, fragte Nadschîb.
Wortlos lächelte sie.
»Ich verstehe das nicht. Ist irgendetwas vorgefallen?«
»Das hat mit dir nichts zu tun«, sagte sie und lachte unvermittelt. »Ich hatte einen bösen Traum und war deshalb schlecht gelaunt. Vergiss es einfach!«
Nadschîb konnte ihr Verhalten nicht nachvollziehen und bestand darauf, den Grund zu erfahren. Sobald sie aber ihren Verdacht äußerte und ihm auf den Kopf zusagte, dass er sie mit einer gewissen Brünetten unbekannten Namens hinterginge, sprang er empört auf und ging.
Am Ende verschwand Nadschîb tatsächlich aus ihrem Leben und heiratete jene dicke Frau.
In der Nacht träumte Milia von ihm.
»Ich bin vor deinen Träumen weggelaufen«, so seine Worte im Traum. »Mit einer Frau wie dir kann man unmöglich zusammenleben!«
»Mein Traum hat sich bewahrheitet«, sagt sie. »Ich habe dich gesehen. Im Grunde hätte ich dich da schon verlassen müssen. Ich hätte nicht warten dürfen, bis du mich verlässt. Mein Fehler.«
Milia hatte alles deutlich gesehen.
Nadschîb sitzt da. An seiner Seite jene Frau mit einem Hintern, so ausladend, dass er den ganzen Garten einnimmt. Und neben den beiden steht Milias Bruder Salîm.
»Ich hasse dich!«, schleudert sie Salîm entgegen. »Du spielst den Anständigen… den Heiligen, und in Wirklichkeit… Pfui Teufel!«
Dann steht sie wieder auf der Leiter. Sie rutscht aus, fällt kopfunter, kreischend. Mûsa steht unten, die Arme ausgestreckt, um sie aufzufangen. Sie schlägt auf dem Boden auf, fühlt sich wie ein Haufen zertrümmerter Knochen.
»Wie konntest du einfach gehen, Mûsa? Wie konntest du mich im Stich lassen? Die Sache mit dem Geld quält dich wohl immer noch, was?«
Sie hatte geträumt, Mûsa habe die Münzen entwendet, die sie unter ihrer Matratze aufbewahrte. Am Morgen, erwacht, schaute sie nach dem Geld, und es war tatsächlich fort. Als Mûsa aus der Schule heimkam, stellte sie ihn zur Rede. Mit hochrotem Kopf wies er die Anschuldigung zurück, hielt es aber schließlich nicht mehr aus und gestand unter Tränen. Milia küsste ihn auf die Wimpern und verzieh ihm.
Milia spielte mit Vorliebe ihr Traumspiel. War ihr ein Traum entfallen, dann ließ sie, morgens erwacht, die Augen geschlossen. Sie stellte sich schlafend und wartete, bis Bilder auftauchten, die sie durch den Tag tragen würden. Und abends im Bett malte sie sich vorm Einschlafen aus, was sie träumen wollte. Nein, ganz so einfach gestalteten sich die Dinge nicht. Eines aber konnte sie tatsächlich bestimmen. Den Handlungsort der Träume. Und so spielten sie meist am Strand oder an einem Abhang. Selbst im tiefsten Winter suchte sie den Strand auf. Sie hüllte sich in ihre Decke, schloss die Augen, im Sinn die Farbe Blau, und schon fand sie sich im Wasser wieder.
Ihre vier Brüder gingen im Sommer täglich ans Meer. Hin und wieder ging sie mit, badete aber nicht.
»Du bist ein Mädchen. Und schwimmen gehört sich nicht für ein Mädchen!«, sagte Salîm, der älteste Bruder.
»Warum nicht?«, fragte Milia.
»Weil du ein Mädchen bist«, bestimmte Salîm.
»Ich bin kein Mädchen.«
»Wieso? Hast du denn auch einen Puller?«, fragte Mûsa.
»Halt den Mund, Dummkopf!«, schimpfte Salîm. »Und du, Milia, bleibst hier auf den Felsen. Du darfst uns zusehen.«
Einmal hatte Milia unbändige Sehnsucht nach dem Meer. Sie und Mûsa waren allein zu Hause. Die Mutter war unterwegs »Ikonen lecken«, wie Salîm ihre ständigen Besuche im Kloster beschrieb. Und Salîm hielt sich bei den Jesuiten auf. Zu Hause waren, wie gesagt, nur Milia und Mûsa. Milia war zwölf Jahre alt. Sie bat Mûsa, mit ihr ans Meer zu gehen. Dann befahl sie es ihm. Schließlich taten sie es. Dort angekommen, zog sie die Kleider aus und die Badehose an, die sie aus Salîms Schrank genommen hatte. Zitternd stand sie vor dem unendlich weiten Blau. Sie wollte gerade in das kleine Becken steigen, das sich wie eine Zunge ins Ufer schlängelte, als sie bemerkte, dass Mûsa sie anstarrte. Seine Blicke bohrten sich ihr in den Oberkörper. Da wurde sie auf gewisse Veränderungen an sich selbst aufmerksam. Aus ihrer Brust wölbten sich zwei kleine, feigenförmige Erhebungen. Diese hatte Milia bisher nicht wahrgenommen. Und lange noch
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