Als schliefe sie
Augen halb geschlossen, schwebte er davon und wieder auf sie zu. Sie wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Hanna sprach zu ihren milchprallen Brüsten. Erzählte ihnen, wie ihr Ehemann sie verstoßen und das Kind weggenommen hatte. Demnach war der Junge in Wirklichkeit nicht gestorben, sondern entführt worden! Weshalb also hatte Hanna behauptet, dass sein Haar plötzlich spröde wie trockene Stacheln abstand? Hatte der Vater das Kind getötet?
»Was heißt, er hat sie verstoßen?«, fragte Milia ihre Mutter.
»Nimm dieses Wort nie wieder in den Mund! Hörst du! Bei uns gibt es so etwas nicht. Scheidung ist Sünde.«
Hanna war eines Tages verschwunden, und mit ihr verschwand ihre Geschichte. Milia hat keinem Menschen je davon etwas verraten. Nur ihrem Bruder Mûsa gegenüber sprach sie darüber. Denn er war noch klein. Als er aber älter wurde, ging die Geschichte ins Dunkel der Vergessenheit ein.
Nach Jûsufs Tod erkrankte Saada. Fortan brachte sie ihre Zeit hauptsächlich im Erzengel-Michael-Kloster bei den Ikonen und Nonnen mit Beten zu. So fromm, wie sie war, hätte sie es im hohen Alter zu einer Heiligen oder Ähnlichem bringen können. Denn sie aß nur trockenes Brot und verteilte gegen alle erdenklichen Krankheiten ölgetränkte Watte an ihre Angehörigen. Keiner hätte je zu behaupten gewagt, dass die Arznei bei ihm fehlgeschlagen habe, denn er wäre der Lüge bezichtigt worden. Alle Familienmitglieder, ob groß oder klein, glaubten fest, dass Saada Wunder vollbringen könne und dass sie diese Fähigkeit ihrer besonderen Beziehung zu der Nonne mit dem monströsen Körper und der fiepsigen Stimme verdanke.
Milia spürte das Wasser. Schtûras Morgenkälte kroch ihr in den Körper. Sie beschloss, wieder aufs Zimmer zu gehen. In der Hotelhalle stand das Frühstück bereit. Der Fahrer saß allein am Tisch und schlang Spiegeleier, Labna und Käse in sich hinein. Kaum bemerkte er sie, rieb er sich die Hände und beobachtete sie grinsend aus den Augenwinkeln. Eine spöttische Bemerkung schlich unübersehbar um seinen Mund herum. Doch er sparte sie sich und kaute stumm weiter, auf den Lippen einen sarkastischen Ausdruck. Milia stieg die Steintreppe auf Zehenspitzen hinauf, ging zum Zimmer, öffnete die Tür. Drinnen war es dunkel. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Ein Geruch wie der, der im Traum aus dem Wasserbecken aufgestiegen war. Von plötzlicher Müdigkeit übermannt, zog sich Milia aus, streifte das Nachthemd über und schlüpfte ins Bett. Mansûr, fest in die Decke gehüllt, lag zu einem Halbkreis zusammengerollt neben ihr. Sie betrachtete seine geschlossenen Augen, und sofort erwachte in ihr ein Gefühl der Zärtlichkeit, begleitet von einem leichten Schmerz, der von den Schultern den Rücken hinabwanderte.
Milia sollte es nicht Liebe nennen. Jetzt im Bett, wie vorher im Auto, empfand sie etwas Undefinierbares, für das sie erst in Nazareth einen Begriff fand. Das Wort »Liebe« hat sie nur ein einziges Mal ausgesprochen. Das war, als sie einmal während der Schwangerschaft nach Weihrauch duftend von einem Besuch der Kirche heimkam. Mansûr war im Garten, rauchte eine Zigarette und genoss den feuchten Erdgeruch nach dem Regen.
»Weißt du, Milia, unser Kind wird zu Weihnachten auf die Welt kommen.«
Milia, im fünften Monat schwanger, war berauscht von dem Duft des Frühseptemberregens. Sie wusste genau, wann sie das Kind bekommen würde, sogar die Uhrzeit wusste sie. Doch als sie das Wort »Weihnachten« aus Mansûrs Mund hörte, ging ihr ein Ruck durch den Unterleib, als hätte sich das Kind bewegt. Sie nahm einen weißen Dunst um Mansûrs Augen wahr und erinnerte sich unwillkürlich an den Anblick seiner geschlossenen Augen an jenem Morgen im Masâbki-Hotel.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Wenn du mich liebst, warum darf ich dann nicht mit dir schlafen?«
Sie legte ihm die Finger auf die Lippen, damit er nicht weitersprach. Warum sagte er so etwas? Warum benutzte er diesen Ausdruck? Sie hatte ihm doch schon oft genug deutlich gemacht, dass sie davon nichts hören wollte. Dass Sex ausschließlich der Fortpflanzung dient. Und dass sie nun gottlob schwanger war.
Mansûr aber sprach weiter. Milia dagegen hüllte sich in Schweigen. Sie zog den Schleier des Schweigens über das Gesicht und bewegte sich auf Zehenspitzen durch das Haus. Lautlos erledigte sie ihren Alltag. Sie räumte auf, kochte und wartete auf ihren Mann, ohne viel Worte zu
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