Als schliefe sie
Wasser öffnete sie die Augen wieder. Um sie herum war alles blau. Ein ins gräulich Hellgrüne changierendes Blau. Ihr war, als habe das Meer grüne Augen, als entstamme das Grün, das sie nachts umhüllte, diesen Felsen und Farben. Sie hob den Kopf aus dem Wasser. Ein Kälteschauer durchfuhr sie. Ihre Augen schmerzten. Sie rief Mûsa. Der aber kraulte mit untergetauchtem Kopf in weiter Ferne durch das Meer.
Als Mûsa zurück war, stand Milia verstört im Wasser. Er nahm ihre Hand, um ihr hinauszuhelfen. Sie entwand sich ihm und ging, die Arme vor den Brüsten gekreuzt, hinter ihm her. An Land zog sie sich eilig an. Sie war hungrig und fror. Die pralle Julisonne glitzerte auf dem Wasser. Trotzdem zitterte Milia. Denn unter dem kurzen Kleid trug sie noch die nasse Badehose. Sie auszuziehen hatte sie sich nicht getraut. Mûsa kaufte einen Salzkringel mit Thymian und gab ihr die Hälfte ab. Er verschlang seinen Teil heißhungrig. Milia dagegen aß in kleinen Happen, den Blick unverwandt auf ihren Bruder gerichtet.
In der Nacht träumte sie von einem kleinen Schaf, träumte, von dem Schaf geküsst zu werden. Und in dieser Nacht setzte ihre Regel ein. Sie sei jetzt eine Frau und müsse von nun an auch als solche auftreten, sagte die Mutter. Das Blut machte Milia Angst. Sie verstand nicht, weshalb das Ei, das in ihr heranreifte, so blutig aufplatzte.
»Stirbt das Ei?«, fragte sie ihre Mutter. »Heißt das, dass jeden Monat jemand in mir stirbt?«
»Red nicht solchen Unsinn!«, erwiderte die Mutter unwirsch. »Mit Tod hat das nichts zu tun, sondern mit Natur.«
Natur sei gleichbedeutend mit Tod, schloss Milia. Diese Vorstellung drängte sich ihr Monat für Monat auf, immer stärker, je näher die Periode rückte. Gequält von dem Gefühl, in ihrer Gebärmutter balle sich etwas zusammen, schleppte sie sich schwerfällig durchs Leben. Die Hand stets auf dem Unterbauch, als sei sie schwanger, wie um das Kind nicht im Gehen zu verlieren. Irgendwann schließlich zeigte sich das Schaf. Und da erst floss das Blut, begleitet von heftigen Schmerzen und der ständigen Sorge, das Ei könnte aus ihr herausplumpsen. Diese Sorge legte sich allerdings, als sie schwanger wurde. Damit verschwand auch das Schaf. Seit sie in Nazareth lebte, sah sie es nicht mehr auf ihrer Brust kauern. In jener kleinen Stadt fern von Beirut spazierte sie jeden Tag durch Gassen und Straßen, bis die Füße schmerzten. Zurückgekehrt, legte sie sich schlafen und träumte. Von der blauen Frau. Die blaue Frau kommt auf sie zu, legt ihr das Baby in die Arme. Sie drückt das Kind an sich. Das Kind schnappt nach der Brustwarze und saugt. Sie ist wie berauscht, ihre Gebärmutter zieht sich zusammen, ihr Quell sprudelt über.
Vollendet wie ein Kreis fühlte sie sich morgens und verspürte den Drang, sich zu bewegen. Also folgte sie ihrem Wunsch und ging täglich aus dem Haus. Ihrem Mann verriet sie nichts von ihren Ausflügen. Mansûr aber hat sie gesehen. Zufällig sah er sie, als er einmal das Geschäft verließ, um seine morgendliche Schischa in Sulaimâns Café zu rauchen. Sein Blick streifte ihre Gestalt von hinten. Wie eine rollende Kugel bewegte sie sich vorwärts. Er erkannte sie auf Anhieb an ihrem Gang und folgte ihr. Zielstrebig ging sie zur Nôtre-Dame-de-l’Effroi-Kirche. Dort angekommen, setzte sie sich auf einen weißen Stein vor einen Olivenhain und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Mansûr sprach sie nicht an, sondern versteckte sich hinter einer Mauer und beobachtete sie reglos, mit angehaltenem Atem. Nach einer Weile stand sie auf und machte sich auf den Heimweg. Darauf ging er ins Café. Als er am Abend heimkam, schlief sie wie immer. Er weckte sie. Sie stand auf, bereitete ihm das Abendessen und legte sich wieder ins Bett. Unterhalten haben sie sich nicht.
Am nächsten Morgen näherte er sich ihr, während sie Kaffee für ihn kochte, und wollte sie küssen. Sie wich zurück. Er sagte etwas. Sie erwiderte kein Wort, schaute ihn nur vorwurfsvoll an. Mansûr war sich sicher, dass sie ihn bei der Kirche nicht gesehen hatte. Er war sich außerdem sicher, dass sie die Träume erfand, um alles in ihrem Sinne zu beeinflussen. Darauf aber wollte er sich nicht einlassen.
»Was ist mit dir?«, fragte er.
Stille.
Er hatte das Gefühl zu ersticken. An ihr Schweigen hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Auch an das Leben mit einer Phantom-Frau hatte er sich gewöhnt. Ihre Schwermut und unberechenbaren Launen aber hielt er nicht mehr
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