Als schliefe sie
alte Gedichte auswendig lernte und sie fließend aufsagen konnte. Aufrecht stehend, die Stimme im Rhythmus der Vokale hebend und senkend, rezitierte sie. Die Vokale seien, so Herr Samâra, die Ruder, die das Boot vorwärts bewegten. Im Arabischen seien es die drei Laute A U I, die Knappform des menschlichen Schmerzes. Außerdem seien sie die Gelenke der Worte und damit für die Benennung der Dinge von wesentlicher Bedeutung.
Herr Samâra ermöglichte Milias ersten Ausflug ins Leben, nachdem sie ihren Vater verloren hatte. Er werde sie für immer begleiten, sagte sie zu dem alten Mann und drückte das Heft, in das sie jedes neu erlernte Gedicht niederschrieb, fest an die Brust. Am letzten Tag vor den Ferien, mit den Zeugnissen in der Hand, nahmen die Schülerinnen Abschied von ihren Lehrerinnen und Lehrern. Herrn Samâra standen, weil er aus dem Berufsleben schied, die Tränen in den Augen. Milia bemerkte es, zückte, um ihn zu trösten, das Heft mit den Gedichten aus ihrer braunen Schultüte und drückte es an sich.
»So wollen es meine Kinder. Sie wollen, dass ich in den Ruhestand trete«, sagte er und schrieb das Wort ›Ruhe-Stand‹ getrennt durch einen Bindestrich an die Tafel. »Sie wollen, dass ich Ruhe gebe, obwohl ich noch voll im Leben stehe. Aber kann ein Mann des Wortes überhaupt Ruhe geben? Trotzdem wollen sie, dass ich es tue. Statt Vokale zu lesen, soll ich sie nun am eigenen Leib spüren.«
Ihm liefen die Tränen. Ein Raunen ging durch die Reihen. Milia sah, dass ihm die Tränen förmlich auf den Wangen brannten und die Vokale schmerzend Besitz von seinem Körper ergriffen.
»Ich nehme Sie mit«, versprach Milia ihm zum Abschied. Sie hatte keine Ahnung, dass es auch ihr letzter Tag an der Schule sein sollte und dass die chronischen Krankheiten der Mutter ihr Leben von Grund auf verändern würden.
Saadas Arznei waren die Nonne und die Aufenthalte im Erzengel-Michael-Kloster, wo Mysterium und Wirklichkeit miteinander verschmolzen. Schwester Mîlâna fasste Welt und Leben in einem Wort zusammen: Mysterium. Denn mit einem Mysterium hatte ihr bewusstes Erleben angefangen. Einem Mysterium, das sie im Alter von fünf Jahren ins Kloster führte. Ihre Mutter war gestorben. Darauf gab ihr Vater sie, weil er zu Verwandten in den Haurân fahren wollte, um eine neue Frau zu finden, zu den Nonnen in Obhut.
»In ein paar Monaten bin ich wieder zurück«, versprach er. »Nur ein paar Monate, dann hole ich meine Tochter heim.«
Doch er kam nicht zurück. Und so verblasste sein Bild in Hadscha Mîlânas Gedächtnis. Alles, was sie von ihm noch in Erinnerung hatte, war seine heisere Stimme. Sein Gesicht hatte sich in Weihrauch aufgelöst.
»Nichts ist dem Menschen so nahe wie Weihrauch. Denn Weihrauch gleicht der Seele. Mit dichtem Weiß eingefärbte Luft. Das sind wir. Das dichte Weiß hüllen wir in schwarze Kleider, um uns in Demut zu üben. Wir tragen Trauer wegen unserer Sünden. Der Mensch ist Weihrauch. Und der Tod führt uns stets zum Wesentlichen zurück. Wer ein sündiger und wer ein frommer Mensch ist, erkennt Gott am Geruch. Letztendlich ist alles Weihrauch, mein Kind.«
Seither fürchtete sich Milia vor Menschenseelen. Sie sah um sich herum keine Körper mehr, sondern nur Rauchschwaden. Nach und nach schlichen sich die Seelen auch in ihre Träume ein. Dichter weißer Rauch, der unverhofft aufzog und wieder verflog. Entsetzliche Angst erfasste sie. Angst vor der Mutter, Angst vor der Nonne, Angst vor den ölgetränkten Wattebäuschen. Von Schmerzen gequält, schleppte sich die Mutter tagaus, tagein in die Kirche. Indessen versuchte sich Milia, zu Hause allein gelassen, im Kochen. Und eines Tages tat sich ihr der Kochtopf auf, so wie sich Heiligen der Himmel auftut. Dieses ergreifende Gefühl begleitete ihre Entdeckung. Die Entdeckung, dass die Kunst des Kochens darin besteht, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Knoblauch, Zwiebeln, Koriander und Zitrone herzustellen. Dass Wohlgeschmack also einem gewissen, der Hand innewohnenden Gefühl für Mengen entspringt. Von dem Tag an strahlten beim Essen die Gesichter ihrer Brüder. Endlich waren neue Zeiten angebrochen. Saadas magere Kost gehörte der Vergangenheit an. Stattdessen verzauberte Milia mit ihren farbenfrohen, würzigen Speisen die Stimmung im Haus und machte aus dem allabendlichen Treffen bei Tisch ein wahres Fest der Genüsse. In Armut lebte die Familie nach wie vor. Doch nun hatte das Aroma des Lebens Einzug in den Alltag der Schâhîhs
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