Als schliefe sie
Wasserglas neben dem Bett. Das Glas war leer. Sie setzte es an die Lippen, schlürfte Durst und Leere. Sie wollte aufstehen und Wasser holen. Aber sie fürchtete sich. Ihre Beine waren wie gelähmt. Sie legte den Kopf auf das Kissen und wünschte sich den Schlaf herbei. Leise kribbelnd beschlich sie der Schlaf. Die Vögel sind wieder da. Nadschîb steht neben ihr, hält sie bei der Hand. Unvermittelt lässt er sie los und steigt in einen Baum. Der Stamm einer gewaltigen Eselsfeige spaltet sich und verschluckt ihn. Verwesungsgestank breitet sich aus. Das kleine, dunkelhäutige Mädchen steht barfuß da, Kieselsteine stechen in ihre Fußsohlen. Die Vögel erscheinen. Sie breiten die Flügel aus, fliegen, fallen, schlagen auf dem Boden auf. Milia schrumpft, schrumpft, schrumpft auf die Größe eines Sandkorns.
Milia riss die Augen auf, hörte sich keuchen. Vor Angst keuchen. Sofort begriff sie, dass es zu Ende war. Nadschîbs Vögel waren gestorben. Es war aus und vorbei. Als sie es von ihrer Mutter erfuhr, war sie nicht überrascht. Ihre Mandelaugen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus.
»Halb so schlimm«, sagte sie und rannte in die Küche, um zum sonntäglichen Mittagessen für die Familie rohe Kubba 14 zu bereiten.
Das ereignete sich ein Jahr, bevor sie Mansûr kennenlernte. Die folgenden Monate waren hart. Denn sie musste die Vögel verscheuchen, die sich aus dem tiefen in den flachen Traum eingeschlichen hatten. Die Vögel erschienen nun in den Morgenstunden. Allerdings gab es da keine Bäume. Aber noch bevor die Vögel die Flügel ausbreiteten und starben, riss Milia die Augen auf, sprang aus dem Bett und in den Garten zu dem kleinen Bassin. Sie legte den Mund an den Wasserhahn und trank. Sie trank und trank, dass ihr das Wasser auf Brust und Nachthemd tropfte. Diese morgendliche Planscherei war ihre Art, sich vom Tod, von der Erinnerung an die Bäume und von Nadschîbs Verschwinden reinzuwaschen.
Wie hätte sie darüber sprechen sollen?
Wie hätte sie ihre Träume ablegen und Mansûr die Geschichte anvertrauen sollen?
Wie hätte sie ihm das begreiflich machen sollen? Begreiflich machen, dass man die Sprache ablegen muss, um sich ausziehen zu können. Dass man Träume nur mit Wasser fortwaschen kann.
Milias Begegnung mit der Ehe hatte viele Namen. Als einzige Tochter der Familie lebte sie mit ihrer verwitweten Mutter und vier Brüdern im Haus. Die Mutter erkrankte an einer seltsamen, namenlosen Krankheit. Deshalb musste Milia mit elf Jahren die volle Verantwortung für den Haushalt übernehmen. Saada weigerte sich, einen Arzt aufzusuchen. Die einzige Arznei, die sie akzeptierte, war ölgetränkte Watte aus der Erzengel-Michael-Kirche. Kaum aus der Kirche zu Hause angekommen, schnitt sie die Watte auf Tablettengröße zurecht und schluckte nach jeder Mahlzeit ein Stück davon. Seit Jûsufs Tod führte Saada ein nonnenähnliches Dasein. Dem Ritus der Nonnen folgend, für die das Gebet einen wesentlichen Teil ihres Alltags ausmachte, betete Saada im Rhythmus des Kirchengeläuts. Sie stand um vier Uhr früh auf, verrichtete das Morgengebet, frühstückte und legte sich, von ihrer Krankheit geschwächt, wieder ins Bett. Um elf Uhr betete sie erneut. Dann wartete sie darauf, dass Milia ihr das Mittagessen ins Zimmer brachte. Anschließend hielt sie Siesta. Um fünf Uhr war Zeit für die Vesper. Danach aß sie zu Abend. Und ihre letzte Tat vorm Schlafen war das Nachtgebet.
Am meisten freute sie sich jeden Tag auf das Mittagessen, das für sie etwas von einer Zeremonie hatte. In ihrem Zimmer wartend, lief ihr schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ihr der Duft des Eintopfs aus der Küche in die Nase stieg. Wenn der Teller endlich kam, leerte sie ihn in Windeseile. Saada wusste sehr genau, dass ihre Tochter, die in Rekordtempo kochen gelernt hatte, eine begnadete Köchin war.
»Wärst du nur nicht so entsetzlich verfressen, liebe Saada, dann hättest du es zur Heiligen bringen können«, kommentierte die Nonne.
Betlust und Esslust waren bei Saada gleich stark ausgeprägt. Im Übrigen kannte sie nur Schmerzen. Schmerzen, die in ihrem Körper lange Zeit rastlos umhergezogen waren und sich schließlich in den Füßen niedergelassen hatten. Seither waren die Füße immer mehr angeschwollen, bis sie eines Tages kein Gewicht mehr tragen konnten. Irgendwann gänzlich ans Bett gefesselt, beschränkte sich Saadas Tätigkeit am Ende aufs Beten und Essen. Sie starb an einem Julitag im Jahr 1960 , nachdem sie eine riesige
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