Als schliefe sie
gefunden, dank Milia, die zwar wortkarg war, aber vielsagend schaute.
Vom Leben gezwungen, die Schule zu verlassen, entdeckte Milia eine neue Welt für sich. Die Bücher ihrer Großmutter.
»Die Mutter deines Vaters war am Ende nicht mehr ganz bei sich«, berichtete Saada. »Aber eines Tages ist sie aus ihrem Dämmerzustand erwacht. Sie hat mich gerufen und auf ihre Holztruhe gezeigt. ›Diese Truhe hat mich mein Leben lang begleitet‹, sagte sie. ›Ohne sie hätte ich all die Strapazen kaum überstanden. Nun soll Milia sie bekommen. Gib ihr die Truhe, wenn sie alt genug ist. Und sag ihr, dass sie von Oma Umm Jûsuf ist.«
»Das war eine Frau!«, wollte Milia sagen, als Mansûr ihr sein Familienleid klagte.
Mutter und Bruder verlangten von ihm, dass er zu ihnen nach Jaffa ziehe und in die vom Vater geerbte Schlosserei einsteige. Das aber wolle er nicht, sagte Mansûr, weil er die Herrschsucht seiner Mutter nicht mehr aushalte. Abgesehen davon, habe er sich in Nazareth seine eigene, unabhängige Existenz aufgebaut. Auf der Schwelle zum vierzigsten Jahr habe er in ihr, seiner wortkargen Frau mit den stets müde verhangenen Augen, seelische und körperliche Ausgeglichenheit gefunden. Sie gleiche der kleinen Stadt, die er zum Sitz seiner Geschäfte und zum Wohnort seiner Familie erkoren hatte.
Richtig. Milia war unbestritten seltsam. Sie brachte angefangene Sätze nicht zu Ende. Sie fiel sich selbst ins Wort und sprang von Thema zu Thema, von Ort zu Ort und verfiel unvermittelt in Schweigen. Trotzdem wirkte sie beruhigend auf ihn. Seine Mutter dagegen, ein eher rastloser, leicht reizbarer Typ, vermittelte ihm das Gefühl, dass Arbeit eine tagtägliche Strafe ist. Mansûr war fünfzehn Jahre alt, als sein Vater starb. Amîn war sechzehn. Amîn, im Alter von zwölf von der Schule abgegangen, um in der Schlosserei zu helfen, übernahm nach dem Tod des Vaters die Geschäftsführung zusammen mit der Mutter. Mansûr wurde von den beiden behandelt wie ein Angestellter und ahnte, dass er niemals zum ebenbürtigen Partner werden würde. Also fasste er eines Tages den Entschluss, nach Nazareth zu gehen. Dort lebte eine Tante. Die Witwe Warda. Tante Warda, so munkelte man, habe ihn als Gatten für ihre einzige Tochter gewinnen wollen und ihn deshalb nach Nazareth gelockt. In Wirklichkeit aber war Mansûr aus eigenem Antrieb nach Nazareth gegangen. Seinerseits hätte er nichts dagegen gehabt, Samîha zu heiraten. Samîha aber war bereits mit einem Mann aus dem Hause Saîd liiert und seinetwegen zum Protestantismus übergetreten. Mansûr war fest entschlossen. Auf keinen Fall wollte er nach Jaffa zurückkehren. Denn er hatte eigene Pläne. Er eröffnete ein Geschäft für Damenstoffe. Der Herrgott war ihm wohlgesinnt, und seine Ware fand Absatz. So kam es, dass er regelmäßig nach Beirut fuhr und sich auf dem Tawîla-Markt, erste Adresse für importierte Damenkleiderstoffe in der französischen Mandatszeit, mit neuer Ware eindeckte. Das Schicksal führte ihn in das Haus des befreundeten Händlers Emil Rahhâl, den er auf dem Stoffmarkt kennengelernt hatte. Und im Garten von Khawâdscha Emil Rahhâl und seiner Frau Sonja war es dann um ihn geschehen. Dort erblickte er das weiße Mädchen zu Frühlingsbeginn unter dem blühenden Mandelbaum und wurde ein Opfer der Liebe. Dementsprechend war das erste Geschenk, das er seiner Beiruter Verlobten machte, ein altes, in Kairo veröffentlichtes Buch mit dem Titel »Opfer der Liebe«. Dieses Buch sollte einen festen Platz in Oma Umm Jûsufs Truhe bekommen und mit Milia nach Nazareth ziehen neben zwei anderen Werken: »Sinaxar«, einer Sammlung von Heiligenschichten, und den »Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht«.
In Nazareth blieb die Truhe geschlossen. Milia rührte die Bücher ihrer Großmutter nicht an. Sie hatte kein Bedürfnis zu lesen. Denn hier stand alles in den Straßen und Gassen geschrieben. Milia brauchte nur das Haus zu verlassen, und schon fand sie sich selbst. Eine Zeile in einem gewaltigen Buch, das sie zugleich las und lebte.
In Beirut dagegen hatte sie mit Lesen die freie Zeit zwischen Kochen und der Heimkehr ihrer Brüder überbrückt. Regelrecht verschlungen hatte sie die Bücher ihrer Brüder. Sie löste die Mathematikaufgaben und merkte sich die Gedichte, die Mûsa auswendig zu lernen hatte.
Ihr Leben spielte sich zwischen den Geschichten aus der Truhe und den Hausaufgaben ihres Bruders ab. Sie war die Königin des Kochens. Das stand fest. Deshalb
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