Als schliefe sie
gehen, und Geschichten, die sterben. Geschichten, die zu Ende gegangen sind, rufen wir uns in Erinnerung, indem wir sie erzählen. So bleiben sie gegenwärtig. Geschichten dagegen, die gestorben sind, erlöschen. Das Licht ist dann für immer aus. Im Dunkeln kann man nicht lesen. Du verlangst von mir, dass ich im Dunkeln lese. Aber das kann ich nicht.«
Milia versuchte zu schildern, was vorgefallen war, brachte aber nur zusammenhanglose Fetzen heraus. Mansûr verstand nicht.
»Du lügst doch«, sagte er.
»Mehr oder weniger«, erwiderte sie. »Aber was soll ich sonst tun? Du willst, dass ich etwas wiedergebe, das ich vergessen habe. Du willst etwas wissen, das ich selbst nicht mehr weiß. Was soll ich also deiner Meinung nach erzählen?«
Dennoch erzählte sie. Sie erzählte eine tote Geschichte. Was sich aber in dem Garten zugetragen hatte, verriet sie ihm nicht. Auch nicht, wie sie sich Wunden an den Beinen zuzog, als sie, um Nadschîbs Annäherungsversuch auszuweichen, rückwärts in die Brennnesseln trat. Nein, wie sie betrogen worden war, das erzählte sie.
Milia versuchte den Unterschied zwischen einer zu Ende gegangenen und einer verendeten Geschichte zu erläutern. In jeder Familie, sagte sie, gebe es mindestens eine beerdigte Geschichte, die keiner auszugraben wage. Und solch eine sei ihre Geschichte mit Nadschîb. In Erinnerung seien ihr davon nur noch dunkle Bruchstücke wie aus einem alten Traum, die sie nicht in Worte fassen könne. Dann begriff sie, dass sie es unterlassen sollte, die Gedanken auszusprechen, die wie fortlaufende Bilder vor ihren Augen aufleuchteten, weil er sonst nichts verstehen würde. Schließlich hatte er bereits mehrere Anläufe unternommen, ihr das klarzumachen. Zuerst hatte sie nicht nachvollziehen können, wieso er sie nicht verstand. Aber dann wurde ihr bewusst, dass er dem Schlittern ihrer Worte ins Ungewisse nicht folgen konnte. Wörter waren für sie nämlich Anlässe zu schlittern. Sie schlitterte von einem Wort zum nächsten. Schlitterte vom Wort in allerlei Bilder. Allerdings bekam sie dann den Anfang des Fadens, den sogenannten Beginn der Geschichte, nicht mehr zu fassen. Ihr Faden hatte weder Anfang noch Ende. Sie redete, als würde sie einen Faden aufwickeln, redete einfach drauflos, ohne Zusammenhänge herstellen zu können.
»Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Menschen reden in Zusammenhängen. Nur so ergeben Wörter im Kopf des Gegenübers Sinn. Redest du eigentlich immer so konfus?«
Morgens im Masâbki-Hotel erwacht, rückte Mansûr an die Frau neben ihm im Bett heran und zog sie zu sich. Er spürte ihre kalten Füße, rückte noch näher und umfing ihre Hüfte. Milia hatte die Augen geschlossen und war wie erstarrt. Allmählich entspannte sich ihr Körper, und sie schlummerte ein. Sie sei eingeschlafen und erinnere sich an nichts, sagte sie. Er aber hatte sie etwas sagen hören. Ein unverständliches Murmeln hatte er aus ihrem Mund vernommen. Im Bad, hüpfend unter der Dusche, aus der abwechselnd kaltes und warmes Wasser floss, kamen ihm Nadschîb und die roten Striemen an Milias Hals in den Sinn. Doch er beschloss, nicht nachzufragen. Schließlich fragte man seine Braut nicht am ersten Tag nach der Hochzeit nach einem früheren Verehrer aus. Prustend und schnaufend rief er sie zu sich unter die Dusche. Wieder am Bett, stellte er fest, dass sie schlief. Sie lag auf dem Rücken. Kopf und langes Haar ins Kissen eingesunken, schien sie schwerelos wie auf dem Wasser zu treiben. Er trat an sie heran, wollte sie wecken. In dem Moment öffnete sie träge, aus unergründlichen Tiefen erwacht, die Augen. Sie lächelte ihn an, drehte sich auf die linke Seite, deckte sich zu und schlief weiter. Er zündete eine Zigarette an, setzte sich neben sie aufs Bett und wartete. Als sie nach einer Weile immer noch tief und fest schlief, zog er sich an, ging hinunter in die Hotelhalle und suchte den Frühstücksraum.
Die betagte Wadî’a kam herangeeilt.
»Möchten Sie ein Ei zum Frühstück?«, fragte sie.
»Nein, nicht nötig«, sagte Mansûr.
»Eier sind gut für frisch Vermählte«, belehrte ihn Wadî’a II , die plötzlich, wie der Wand entstiegen, dastand.
»In Ordnung«, sagte er und nahm Platz.
Der glatzköpfige Chauffeur kam und klopfte ihm auf die Schulter. Wadî’a I und Wadî’a II trugen Kaffee, Milch und Spiegeleier herein, stellten alles auf den Tisch und blieben neben dem Chauffeur stehen.
»Ich fahre jetzt nach Beirut zurück«, gab der Fahrer
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