Als schliefe sie
Andere würden sogar trockene Erde essen. Und wieder andere… das ersparte sie sich lieber. Sie selbst habe, als sie mit ihm schwanger war, unablässig Zitronen gegessen, bis ihr der Magen brannte. »Mach dir keine Sorgen, mein Sohn. Das kommt alles von der Schwangerschaft.« Obwohl ihm die Worte der Mutter einleuchtend schienen und er guter Hoffnung war, dass Milia sich nach der Entbindung nicht mehr so merkwürdig verhalten, nicht immerzu durch Gassen und Straßen streichen würde, war Mansûr überzeugt, dass die eigentliche Ursache des Problems Nazareth war.
»Diese Stadt ist verrückt«, erklärte er seiner Frau. Diese Tatsache habe er in dem Moment erkannt, als sie das Haus betraten. Schlagartig habe sich da etwas an ihrem Blick verändert. Und seither seien ihm ihre Gefühle verschlossen, die er zuvor stets an den Schatten in ihren Augen habe ablesen können. »Das ist Liebe«, sagte er. »Ein Blick in deine Augen, und ich weiß Bescheid. Liebende sind die Einzigen, die die Sprache der Augen beherrschen. Nur sie können in den Augen lesen. Das ist das Zeichen der Liebe. Also liebe ich dich.«
»Aber ich kann so nicht lesen«, entgegnete sie. »Heißt das, dass du mich mehr liebst als ich dich?«
»Bestimmt«, sagte er. »Los, schau mir in die Augen und lerne lesen.«
Sie saßen im Garten des alten Hauses. Mansûr streckte die Hand nach der ihren aus. Sie aber reichte ihm nur die Fingerspitzen. Ihre Wangen erröteten.
»Ich lese«, sagte sie, die Wimpern über die Augen gesenkt.
»Aber du hast die Augen doch geschlossen«, sagte er zweifelnd.
»Ich lese mit geschlossenen Augen.«
Das war keine Lüge. Milia las die Menschen um sich herum wirklich mit geschlossenen Augen. Was sie allerdings irritierte, war die Tatsache, dass Mansûr nie in ihren Träumen auftauchte. Das beunruhigte sie anfangs. Denn sie hatte das Gefühl, ihrem zukünftigen Mann untreu zu sein, und deshalb Gewissensbisse. Von alldem aber verriet sie ihm nichts. Wie auch? Eine Frau kann ihrem Mann ja schlecht sagen, dass sie ihn betrüge. Ein solches Geständnis hätte ihn zweifellos aufgebracht. Bei näherer Betrachtung dieses merkwürdigen Betrugs jedoch hätte er einen Lachanfall bekommen und jedes weitere Wort darüber für überflüssig erklärt.
Milia wusste, dass es noch nicht an der Zeit war, von Mansûr zu träumen. Doch sie wurde von Tanjûs aufgeklärt. Mansûr würde warten, bis sie das Kind zur Welt gebracht hätte, und dann erst umziehen. Er liebe sie sehr und wolle sie unbedingt mitnehmen. Als Milia diese Worte hörte, gefroren ihr die Fußsohlen.
Milia wehrte ab. Sie wolle nicht fortgehen, sondern in Nazareth bleiben, sagte sie. Sie sei die Tochter eines Zimmermanns und würde für ihren Sohn ein Geschäft hier eröffnen. Ihr Sohn solle den Beruf des Messias erlernen. Der alte Mann lächelte. Der Junge würde an einem fernen Ort leben, erklärte er. Und sie sei dazu berufen, Dinge zu sehen, die kein anderer Mensch sieht. Sie würde Mansûr noch kennenlernen. Schlagartig. Denn Zeit sei nur für Menschen ohne seherische Fähigkeiten von Bedeutung.
»Aber ich kenne ihn. Er ist mein Ehemann«, hielt sie dagegen.
»Nein, nein. Du wirst Dinge an ihm kennenlernen, die nicht einmal er kennt«, versprach er.
»Aber was habe ich damit zu tun?«, fragte sie.
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte der alte Mönch.
Kaum in der Stadt angekommen, hatte sich Milia als Erstes nach Jesus’ Haus erkundigt. Sie brannte darauf zu wissen, wo es gestanden hatte. Mansûr beobachtete, wie sich alles an ihr veränderte. Die Augen waren neuerdings von einem nebligen Schleier belegt. Um die Augen hatten sich Höfe gebildet, die nichts mehr von den Schatten hatten, die er aus Beirut kannte. Mansûr verfluchte die Entscheidung, nach Nazareth zu ziehen.
Er spürte, dass Milia ihm entglitt, in unbekannte Gefilde, wusste aber nicht, wie er sie hätte einholen und zurückhalten können. Ihre häufigen Kirchenbesuche und die beharrliche Suche nach Jesus’ Haus machten ihn beklommen.
»Keiner kennt das Haus. Außerdem ist das alles vielleicht nur eine Legende. Vielleicht hat Jesus gar nicht hier gelebt. Vielleicht war Nazareth irgendwo anders.«
Seit er verheiratet war, regte sich bei Mansûr ein gewisser Hass auf diese Stadt. »Wer lebt schon in einer Stadt voller Legenden, Märchen und Propheten! Diese Stadt macht ihre Bewohner verrückt. Im Grunde ist das doch nichts weiter als eine Stadt. Man kann nicht immer nur auf den Spuren der Heiligen
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