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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Khoury
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ich ohne Unterlass. Immerzu lief ich im Haus umher. Es war, als hätte ich die Welt neu entdeckt. Von oben sieht alles anders aus.«
    »Daran kannst du dich erinnern?«, fragte Mansûr.
    »Selbstverständlich.«
    »Aber kein Mensch kann sich an die Zeit vor seinem dritten Lebensjahr erinnern.«
    »Ich schon.«
    »Ist ja gut«, sagte Mansûr und verstummte. Seit dem Vorfall mit dem zerbrochenen Weinglas brachte er mit »ist ja gut« höflich zum Ausdruck, dass er ihr nicht glaubte. Während er sich ihre Geschichten anhörte, schoss ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass sie log. »Du lügst mich an, Milia«, sagte er unvermittelt. Die Geister ihrer Worte verflüchtigten sich vor seinen Augen, und er lächelte. Sie kommentierte das nicht. Solche Zweifel war Milia gewohnt. Ihre Mutter hatte sie, die Nonne hatte sie, und ihre Brüder hatten sie. Nur Mûsa glaubte ihr und an sie. Er glaube an sie, hat er ihr einmal gesagt. »Man darf nicht an Menschen glauben, nur an Gott«, klärte sie ihn auf.
    »Aber Mutter glaubt an die Nonne!«
    »Ich mag keine Nonnen.«
    »Aber das ist eine Heilige!«
    Wann hatte dieses Gespräch stattgefunden? Hatte Mûsa wirklich gesagt, dass er an sie glaube? Oder vermischte sie Traum und Wirklichkeit?
    Er kenne sie nicht, sagte sie zu Mûsa. Nein, das hat sie nicht gesagt. Sie glaubte, dass Mûsa sie nie wirklich gesehen hatte. Wie auch, wenn er nicht in ihre Träume kam, nicht das dunkle Mädchen sah, das durch Dornen streifte und keine Schmerzen empfand? An jenem Tag aber, als er das Foto heimbrachte und an die Wand hängte, schauderte ihr vor dem Licht, das aus ihren Augen auf dem Foto leuchtete. Mûsa hatte sie zwar gesehen, jedoch nicht die Wahrheit erkannt, die sich ihm ohne sein Zutun offenbarte.
    »Wozu das Bild?«, fragte sie und wich entsetzt zurück. »Hängt es ab!«
    »Damit du bei uns bleibst«, sagte Mûsa. »So vermisse ich dich nicht, wenn ich dich vermisse.«
    Milia ging zu Fuß, allein. Das Kind machte sich bereit, aus ihrem Bauch zu schlüpfen. Traurigkeit und Angst erfüllten sie.
    »Neun Monate Angst«, sagte Milia zu Tanjûs.
    Woher kam dieser geheimnisvolle alte Mann, der etwas von einem Propheten aus dem Alten Testament hatte?
    Milia dachte an das Glas. Er hatte ihr ein Glas voll Weißwein mit gelblichem Farbton gereicht. Nein, er hatte ihr das Glas nicht gereicht, sondern es am Fenster abgestellt. Milia war allein im Haus. Mansûr hielt sich in Jaffa auf. Sie hörte ein Klopfen am Fenster, verkroch sich unter der Decke und beschloss, die Augen auf keinen Fall zu öffnen. Die Angst vor dem Traum mischte sich mit der Angst vor der Nacht. Sie kniff die Augen noch fester zu, drehte sich auf die rechte Seite, hörte ein Dröhnen in den Ohren. Sie ergab sich dem Dröhnen und der Müdigkeit. Dann hörte sie die Stimme. Das Kind in ihrem Bauch erzitterte und begann heftig zu strampeln.
    Milia öffnete das Fenster und sah den Alten zwischen den Bäumen umherschleichen. »Onkel Tanjûs«, rief sie. Sie nahm das Glas, das auf dem Fensterbrett stand. Wie Gold sah die Flüssigkeit aus. Sie hob das Glas an die Lippen und trank einen Tropfen. Im Nu war sie berauscht. Sie stellte das Glas auf den Tisch neben das Bett und sank in einen tiefen Schlaf.
    Wieso war aus dem Weißwein am Morgen Rotwein geworden? Warum hatte Mansûr den Wein nicht gesehen? Woher kam dieses Blutrot an ihren Fingerspitzen, das mit Wasser und Seife nicht abzuwaschen war?
    Tanjûs war das Zeichen. Ein alter Mann, die Lebensjahre unzählig. Er trug eine schwarze Kutte wie ein Mönch, hatte einen langen weißen, zerzausten Bart. Die Augen, wie zwei ersterbende Lichtpunkte, lagen in tiefen Höhlen. Die Stimme klang wie ein aus dem Bauch aufsteigendes Geröchel.
    Er sei diesem Mann nie begegnet, wehrte Mansûr ab.
    »Doch, ein Mönch«, sagte Milia.
    »Ein Mönch vagabundiert nicht durch die Straßen«, widersprach Mansûr. »Ich habe ihn nie gesehen. Und meiner Tante, die schon zwanzig Jahre hier lebt, ist nichts von solch einem Mann zu Ohren gekommen. Aus Beirut verschlägt es keinen hierher. Beiruter arbeiten eher in Tiberias und Haifa. Also hör endlich auf damit, Milia! Bald kommt das Kind, und dann haben diese Träume ein Ende.«
    Mansûr war überzeugt, dass die seltsamen Dinge, die seine Frau im Traum sah, von der Schwangerschaft und dem Gefühl der Einsamkeit rührten. Schließlich wusste er von seiner Mutter, dass Frauen in der Schwangerschaft komisch sind. Einige würden den ganzen Tag schlafen.

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