Als schliefe sie
wandeln. Sonst fürchtet man sich am Ende noch vor dem eigenen Schatten. Diese Frau ist mir unheimlich. Uns hier sind solche Marotten fremd. Die sind nur etwas für Touristen und Bekloppte. Wir hier führen unser Leben, als sei da nichts Besonderes.«
»Aber es gibt hier viele Besonderheiten«, entgegnete Tanjûs, als sie die Argumente ihres Mannes wiedergab.
Wer war Tanjûs?
Was war an seiner Geschichte von den Libanesen dran?
Die Gründer des neuen Nazareth, so erzählte sie Mansûr, seien Libanesen gewesen, die von Emir Fakhr ad-Dîn im sechzehnten Jahrhundert als Pächter ins Franziskanerkloster geschickt worden waren. Und die Franziskanermönche hätten auf dem Brachland, das sie hier vorfanden, die Stadt gebaut.
»Was heißt hier Libanesen?«, sagte Mansûr und lachte spöttisch. »Immerhin handelt es sich bei dem Flecken Erde hier um Bilâd asch-Schâm, also geographisch um Syrien. Ach, Faisal I., Gott hab dich selig«, seufzte er und erinnerte Milia an das Foto von dem schmächtigen König im Masâbki-Hotel. Er erzählte von der Schlacht bei Maisalûn 9 , erzählte, wie Jûsuf al-Azma 10 , der Verteidigungsminister Syriens, mit dem Gewehr im Arm fiel, als er den Einmarsch der französischen Truppen in Damaskus verhindern wollte. Mansûr erzählte, erzählte und erzählte.
»Aber ich spreche nicht von Politik«, sagte Milia. »Ich spreche davon, dass die Bewohner von Nazareth zur Hälfte Libanesen sind. Maroniten und Lateiner, die von Fakhr ad-Dîn zur Arbeit bei den Mönchen hergeschickt wurden. Später kamen die Griechisch-Orthodoxen aus dem Haurân-Gebiet und aus der Gegend von Ramallah hinzu. Und alle haben das Haus von Jesus Christus gesucht, es aber nicht gefunden. Der Einzige, der weiß, wo das Haus stand, ist der Mönch Tanjûs.«
»Wer hat dir diese Märchen erzählt?«, fragte Mansûr.
»Der Mönch Tanjûs.«
»Woher ist dieser Mönch? Ich habe ihn noch nie gesehen. Niemand hier in der Stadt hat ihn gesehen.«
»Ich habe ihn gesehen«, erwiderte sie.
Als Mansûr Haurâni nach Nazareth zog, war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er sich in der Stadt des Messias niederließ. Schließlich grenzten sich Nazareths Einwohner entschieden von der heiligen Geschichte ab, indem sie sich als Nazarether bezeichneten und nicht als Nazarener, wie die Anhänger des Jesus von Nazareth im Koran hießen. Warum nur machte sich Milia mit all diesen religiösen Geschichten das Leben zur Hölle?
Mansûr nahm die religiöse Atmosphäre, die bei den Schâhîns in Beirut herrschte, durchaus wahr, nahm sie aber nicht ernst. Er führte sie auf Saadas Hysterie zurück, von der ihm Milia ausgiebig erzählt hatte. Dass die Mutter so fromm war und der Nonne regelrecht am Rockzipfel hing, betrachtete Mansûr als ein Symptom der Wechseljahre. Denn das Ausbleiben der Regel und die Hitzewallungen, die aus den Tiefen der Gebärmutter aufsteigen, konnten Frauen, wie er wusste, in den Wahnsinn treiben. Saada sei immer noch angenehmer als seine Mutter, sagte er. Saada tobe sich aus, indem sie Ikonen küsse und ölgetränkte Watte schlucke. Seine Mutter dagegen habe eine unerträgliche Herrschsucht entwickelt. Mit erbarmungsloser Härte dirigiere sie das Geschäft und ihre beiden Söhne. Außerdem halte sie sich für bedeutender als Hadsch Amîn al-Hussaini, weil sie ein paar verrostete Gewehre reparierte. Aber was ging nun vor sich? Warum hatte er das Gefühl, dass der Geist der heiligen Nonne sich bei ihm im Haus eingenistet hatte? Warum hatte er das Gefühl, dass dieser ominöse Tanjûs, der sich als Libanese ausgab und behauptete, seine Ahnen seien aus dem Dorf Bait ad-Dîn im Schûf-Gebirge gekommen, um bei den Franziskanern zu arbeiten, in seinem und Milias Leben herumgeisterte?
»Du willst aus Nazareth weglaufen«, sagte Milia, »aber ich will hierbleiben. Ich weiß nicht, was dich reitet. Dein Geschäft läuft zum Glück gut, und deine Mutter kommt allein zurecht. Du hast mir doch selbst gesagt, dass deine Mutter die Schlosserei am liebsten in Eigenregie betreiben würde. Ich habe das Gefühl, du fliehst vor einer Sache, von der ich nichts weiß. Vielleicht hast du ja Recht. Vielleicht ist es eine Vision. Schließlich hat Josef auch so gehandelt. Er ist von hier nach Ägypten geflohen und hatte Recht damit.«
»Welcher Josef?«
»Josef der Zimmermann«, sagte sie.
»Woher kennst du den denn schon wieder?«
»Das ist Josef, der Vater von Jesus Christus.«
»Du sprichst vom heiligen Josef wie von einem Freund. Ich
Weitere Kostenlose Bücher