Als schliefe sie
nicht, habe Milia geantwortet. Da sei Malika beruhigt gewesen. Denn der Tod brauche einen langen Traum. Sie solle sich nicht fürchten, habe Malika ihre Tochter Saada beschwichtigt und sei heimgegangen.
»Nein, Vater, ich will nicht«, schreit Milia und versucht sich den Armen des Vaters zu entwinden.
Sie strampelt die braune Wolldecke von sich. Schneeflocken fallen auf sie und schmelzen, sodass sie nass wird.
»Aua«, schreit sie, als würde der Schnee ihr weh tun. »Lass uns nach Hause gehen, Papa.«
Jûsuf aber hört nicht auf sie. Unermüdlich läuft er – und seine Tränen.
»Mein kleiner Liebling, mein Liebling!«, schluchzt er, durch den Schnee rennend. Vor einer großen schwarzen Tür macht er halt und klopft an. Die Tür wird geöffnet. Es hört auf zu schneien. Dunkelheit senkt sich auf Milias Augen. Die Erinnerung erlischt.
Der Fahrer zündete eine Zigarette an und rauchte nervös.
»Bitte nicht rauchen«, fuhr ihn Mansûr an. »Sie sehen doch, dass meine Frau hochschwanger ist!«
Der Fahrer öffnete das Fenster und warf die Zigarette hinaus. Kalter Wind pfiff herein und kroch unter den Mantel, der Milia bedeckte. Milia seufzte. Sie spürte das Kind in ihrem Bauch zittern. »Heilige Jungfrau!«, rief sie. Der Motor sprang an. Und kurz darauf betrat Milia das Krankenhaus.
»Es ist noch nicht so weit. Morgen vielleicht«, sagte der italienische Arzt, nachdem er Milia untersucht hatte, und forderte Mansûr auf, seine Frau wieder nach Hause zu bringen und ihren Zustand zu beobachten. »Wenn die Krämpfe wieder einsetzen und die Schmerzen stärker werden, dann kommen Sie wieder. Sie muss jetzt nicht hierbleiben.«
Milia stimmte zu und stand auf.
»Komm, wir gehen nach Hause«, sagte sie zu Mansûr, der kaum fassen konnte, was sich da abspielte. Er konnte förmlich sehen, wie der Schmerz aus ihren Augen wich. Als seien die Worte des Arztes eine geheime Arznei, wischten sie schlagartig jeden Ausdruck der Verkrampfung aus dem weißen Gesicht. Die schwarzen Linien verflogen aus den zusammengekniffenen Augen, und jenes klare, milchige Weiß kehrte in Milias Wangen zurück.
»Komm, lass uns nach Hause gehen«, sagte sie und lief los.
Es hatte aufgehört zu regnen. Hier und da kämpfte sich ein Sonnenstrahl durch die graue Himmelsdecke.
»Wohin? Warte. Lass mich den Fahrer rufen.«
»Nein, ich will zu Fuß gehen.«
»Darf sie denn gehen, Herr Doktor?«, fragte Mansûr.
Der Arzt war verschwunden. In dem Raum waren nur noch die beiden Krankenschwestern. Sie sahen einander ähnlich. Nur, dass die eine jung und die andere alt, die eine blond und die andere brünett war. Mansûr hielt die Blonde für eine Italienerin und sprach sie auf Englisch an. Lächelnd bedeutete sie ihm mit einer Geste, dass sie ihn nicht verstehe. Also wandte er sich auf Arabisch an die Brünette. Auch sie lächelte und zog die Brauen hoch, zum Zeichen, dass sie nicht verstand. Mansûr verließ das Gebäude und stellte fest, dass Milia fort war. Wie verloren stand er auf dem Hügel vor dem Italienischen Krankenhaus. Die Stadt bestand aus unzähligen Gassen und steilen Wegen. Er wusste nicht, in welche Richtung er gehen sollte, um Milia zu finden. Dann sah er seine Tante. Sie und der Fahrer standen vor dem amerikanischen Wagen und warteten auf ihn. Mansûr setzte sich auf den Beifahrersitz und bat seine Tante, auf der Rückbank Platz zu nehmen.
»Wir wollen nach Hause«, sagte er zu dem Fahrer.
»Und Milia?«, fragte die Tante.
»Nachher«, erwiderte Mansûr.
Milia ging zu Fuß. Die Schmerzen und die Bilder ihres Vaters, der sie trug und nicht absetzte, obwohl sie gehen wollte, schienen einen gewissen Wunsch in ihr geweckt zu haben. Den Wunsch, jenen Mann zu treffen und ihm zu sagen, dass sie nun am Ende angelangt sei und bald in eine ferne Stadt ziehen würde.
Milia könne sich, so behauptete sie, an ihre ersten Gehversuche erinnern. Sie habe auf dem Arm des Vaters gesessen und geweint. »Ich habe mich schwer gemacht und hinuntergebeugt. Doch er verstand mich nicht. Ich hörte, wie Mutter ihm sagte, dass er mich absetzen solle. Damals konnte ich noch nicht sprechen, aber sehr wohl verstehen. Plötzlich sank ich aus großer Höhe in die Tiefe. Er hat mich bäuchlings auf den Boden gelegt. Er dachte wohl, dass ich krabbeln will. Stattdessen umfasste ich ein Stuhlbein, zog mich daran hoch und lief los. Die Welt drehte sich um mich. ›Das Mädchen kann laufen‹, rief meine Mutter und stieß einen Jubeltriller aus. Seither lief
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