Als schliefe sie
heute«, sagte Milia. »Lasst mich schlafen.«
»Doch, heute«, widersprach die Tante.
»Was ist heute für ein Datum?«
»Der 21 .«, sagte Mansûr.
»Nein, es ist noch nicht so weit. Ich bekomme das Kind nicht heute. Der Arzt hat gesagt, das Kind kommt am 24. Dezember in der Nacht.«
Mansûr holte eine kleine Reisetasche und bat seine Tante, ihm beim Packen zu helfen. Milia schaute in den Spiegel. Ihr Gesicht war geschwollen. Die Wangen waren nicht weiß, sondern gelblich. Unter den Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet. Die Krämpfe kamen wieder. Milia stöhnte vor Schmerzen. Mansûr rannte zu ihr, half ihr aufs Bett.
»Wir müssen jetzt wirklich gehen«, sagte er und wandte sich zur Tante, die ratlos vor den Schubladen stand. »Nun mach! Du sollst doch keine Aussteuer für sie zusammenstellen, Tante! Ein Nachthemd und zwei Garnituren Unterwäsche! Das reicht. Dann sehe ich weiter.«
Kurz darauf fand sich Milia im Auto wieder. Mansûr saß neben dem Fahrer. Sie auf dem Rücksitz, neben ihr die Tante. Der Wagen schob sich durch eine kleine, überfüllte Straße, bog rechts ab und erklomm den Hügel zum Italienischen Krankenhaus. Der Himmel leuchtete kurz auf. Dann fing es an zu regnen. In Schnüren fiel der Regen. Milia zitterte. Ihr sei kalt, sagte sie. Tante Malvina zog den Mantel aus und deckte Milia damit zu. Der Wagen hatte Schwierigkeiten, die steile Straße hinaufzukommen. Der Motor kreischte, als würde er um Hilfe schreien. Ohne zu greifen drehten die Reifen auf dem Asphalt durch.
»Die Reifen«, sagte der Fahrer, »die Reifen greifen nicht.«
Er zog die Handbremse an, legte den ersten Gang ein und trat aufs Gaspedal. Das Auto heulte auf wie ein verletztes Tier und setzte sich bebend in Bewegung.
»Was ist los?«, fragte Milia.
»Nichts«, sagte der Fahrer.
Endlich auf dem Hügel angelangt, schwamm der Wagen durch tiefe Regenpfützen. Der Motor ging aus. Zu hören war nur noch der prasselnde Regen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Mansûr.
»Wir können nichts tun«, erwiderte der Fahrer.
Mansûr öffnete die Tür, um auszusteigen.
»Nicht! Geh nicht hinaus, bitte!«, schrie Milia.
Mansûr schloss die Tür wieder und befahl dem Fahrer, etwas zu unternehmen.
»Meine Frau kriegt das Kind sonst noch hier. Wir müssen weiter!«
Die Vordertüren gingen auf. Mansûr und der Fahrer stiegen aus. Milia sah die beiden Männer hinter der geöffneten Motorhaube verschwinden. Sie drehte sich zur Tante. Die Tante saß nicht mehr neben ihr auf dem Rücksitz. Milia schloss die Augen, während sich draußen in den Regen langsam Dunkelheit mischte.
»Schnee! Es schneit!«, hörte sie ihren Vater sagen.
»Wo bist du abgeblieben, Mansûr?«, schrie sie.
Mansûr war nicht da. Sie saß allein im Wagen unter einem braunen Mantel, zitternd vor Kälte.
Die beiden Männer stiegen wieder ein. Tante Malvina fasste ihr an die Stirn, wohl um die Temperatur zu fühlen. Mansûr drehte sich zu ihr um und bat sie, noch ein wenig auszuhalten. Sie habe keine Krämpfe mehr, sagte sie, aber Angst vor dem dichten Nebel.
»Da ist kein Nebel«, erklärte er.
Doch Milia sah Nebel. Und fallenden Schnee. Ein Mann in der Ferne. Mit einem Mädchen auf dem Arm rennt er durch den Schnee. Was hat ihren Vater bei dem Unwetter hinausgetrieben? Wieso trägt er sie durch den Schnee? Jûsuf bringt seine Tochter zu Doktor Naqfûr in die Praxis. Er hatte sie aus dem Bett gehoben, während die Nonne, über ihren Kopf gebeugt, Gebete murmelte, Weihrauch verbrannte und ihr ölgetränkte Watte in den Mund stecken wollte. Jûsuf hatte der Nonne die Kranke entrissen, sie in eine braune Wolldecke gewickelt und sich mit ihr zum Arzt aufgemacht. In jenem Jahr hatte es in Beirut geschneit. Milia konnte sich nicht mehr an den Schnee erinnern. Aber sie erinnerte sich an die braune Wolldecke und an das Keuchen des Vaters. Sie war vier Jahre alt. Sie erinnerte sich an die vielen Tränen, die an ihrem Bett vergossen worden waren, und daran, dass sie über ihrem glühenden Körper geschwebt hatte. Hatte sie das Wort »Tod« gehört? Sie wusste es nicht. Vielleicht wurde ihr erst zu einem späteren Zeitpunkt durch die Erzählungen der Großmutter klar, dass der Tod ihr aufgelauert hatte. In Form eines hohen Fiebers, das zehn Tage lang ihren kleinen Körper schüttelte. Sie habe, so berichtete Malika, die Kranke aus dem Fieber gerüttelt und gefragt, was sie träume. Die glühenden Augen hätten sich einen Spalt breit geöffnet. Sie träume
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