Als wäre es Liebe
darunter fand sie das Wort Hebamme. Und dann: Mutter. Seine Mutter, sagte er, sei Hebamme gewesen. Hebamme. Mutter. Freigeben. Er erzählte ihr von den Kindern, denen sie zum Leben verholfen hatte. Alle Kinder, mit denen er zur Schule gegangen war, seien von ihr entbunden worden. Deswegen hätten sie alle die gleiche Mutter gehabt. Und alle Mädchen waren seine Schwestern. Auf einer der nächsten Seiten stand: Doktor. Er hat sie untersucht. Ihr das Ohr auf die Brust gelegt. Sie hat »Aaa« gesagt und er hat ihre Zunge angesehen. Dann musste sie sich hinstellen, und er hat ihr seine Hände von hinten auf die Schultern gelegt und geprüft, ob ihr Rücken schief ist. Der Schwester gefiel das. Dann hat sie das Kleidchen ausgezogen. Und dann kam die Mutter herein. Und er sagte, er wollte Doktor werden, und dachte, sie freue sich. Sie holte den Besenstiel und schlug zu. Seine Mutter war nie Hebamme gewesen.
Er griff wieder in seine Tüte und hielt eine Hand voller Süßigkeiten über den Zaun. Der Junge kam wieder angelaufen, dann das Mädchen, und bald schon standen alle vier Kinder um ihn herum.
»Bist du wirklich der Nikolaus?«, fragte der Junge.
»Ja, natürlich«, sagte der Nikolaus.
»Aber es ist doch Sommer«, sagte das Mädchen, »der Nikolaus kommt doch erst im Dezember. Und wo ist dein roter Mantel?«
»Peter!« Sie sah, wie eine der Mütter herüberschaute und rief. Aber Peter beachtete sie nicht. »Peter!« Er schaute sich kurz zu seiner Mutter um, dann wieder auf den Nikolaus, der ihnen jetzt die Papiertüte reichte.
»Hast du noch mehr Geschenke dabei?«, fragte der andere Junge. Und der Nikolaus schüttelte den Kopf.
»Peter, jetzt komm!«
Es fiel dem Jungen sichtlich schwer, aber dann sagte er »Tschüs, Nikolaus« und lief zu den beiden Frauen, die auf der Bank saßen. Die anderen Kinder folgten ihm. Sie sah, wie sie ihren Müttern etwas erzählten, sie Friedrich anschauten und ihm zunickten.
»Ich liebe Kinder«, sagte er, und sie war froh, dass sie ihm nie erzählt hatte, dass sie selbst eines hatte.
Sie hat nie viel über ihre Eltern gesprochen. Sie mied den Kontakt zu ihnen und reagierte fast verärgert, wenn ich ihr erzählte, dass mich meine Oma zum Geburtstag angerufen oder sie mir Geld geschickt hat, das ich gut gebrauchen konnte. Ich hatte eine Arbeit, von der ich kaum leben konnte. Aber meine Mutter hatte etwas dagegen, dass ich Geschenke von meiner Großmutter annahm. Das war schon so, als ich klein war, was für mich umso ärgerlicher war, weil meine Großeltern mir meist Spielsachen schenkten, die ich von meinen Eltern nicht bekam. Ich erinnere mich, dass sie mir zum sechsten Geburtstag eine Polizeimütze und eine Kelle schenkten, mit der ich meinen Vater im Flur anhielt und ihn fragte, ob er sich ausweisen könne. So wie die Polizisten im Fernsehen. Ich malte sogar mal ein Fahndungsplakat, eines von denen, die überall hingen, aber mit Gesichtern von Leuten, die ich kannte. Aber weil man sie nicht erkennen konnte, schrieb ich darunter: Mama, Papa, Oma, Opa. Meine Eltern und die Besucher, mit denen sie so manchen Abend in der Küche saßen, tranken und rauchten und laut diskutierten, fanden das nicht komisch. Als ich meiner Großmutter davon am Telefon erzählte, sagte sie, es sei gut, dass ich so wachsam sei, und dass aus mir mal ein guter Junge werden würde und ich mir von meiner Mutter nichts anderes einreden lassen sollte. Als ich sieben war, starb meine Urgroßmutter, an die ich mich aber gar nicht erinnern konnte. Wir fuhren zur Trauerfeier in das Dorf, in dem sie gelebt hatte. Irgendwo in der Nähe von Freiburg. Es war das letzte Mal, dass ich meine Mutter und ihre Eltern zusammen sah. Meine Urgroßmutter lag im Sarg, aufgebahrt, in einem schönen dunklen Kleid. Meine Mutter war die Einzige, die lange vor dem Sarg stehen blieb. Als sie sich umdrehte, hatte sie Tränen in den Augen. Ich stand neben meiner Großmutter, sie hatte eine Hand auf meiner Schulter. Sie schüttelte den Kopf, als meine Mutter an uns vorbeiging, und sagte: »Gerhild, reiß dich zusammen.« Meine Mutter blieb stehen, sah sie an, mit so zornigem Blick, dass ich Angst bekam. Sie sagte aber nichts, sondern verließ die Kapelle. Mein Vater und ich fanden sie später in der Dorfkneipe. »Weißt du«, sagte meine Oma zu mir, »deine Mutter hat mir schon Schmerzen bereitet, als sie zur Welt kam. Sie war so ein schweres Kind, ich wäre fast gestorben bei ihrer Geburt. Aber jedes Kind, wenn es erst mal da ist,
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