Als würde ich fliegen
hineinklettern. Am Ende der Einfahrt befanden sich zwei breite hölzerne Türen, die in Rileys Garten und den seines Nachbarn führten. Rileys Tür war von innen verriegelt und von oben mit weiteren Balken verbarrikadiert, aber die andere Tür, die ebenfalls verschlossen war, hatte oben ein Stück Maschendraht, an dem man sich festhalten könnte, wenn man an der Regenrinne über die Tür klettern würde. Das versuchte Lucas, rutschte jedoch beim ersten Versuch ab und verfing sich mit seiner Hose. Er hatte gehofft, auf diese Weise direkt in Rileys Garten zu kommen, war aber gezwungen, den Umweg über das Nachbargrundstück zu nehmen, eine Landschaft aus sorgsam arrangierten Büschen, Nachtlichtern und einer Kinderhütte am hinteren Ende. Vor dem Zaun stand eine Tonne, in der sich abgemähtes Gras häufte. Von den Nachtlichtern gepeinigt stahl sich Lucas rasch am Zaun entlang und kletterte über die Tonne hinüber in Rileys Garten, warf einen panischen Blick nach hinten auf die Fenster des anderen Hauses. Nichts wies darauf hin, dass ihn jemand bemerkt hatte. Rileys Rosenbusch leuchtete im Mondlicht. Eine der Türen zum Arbeitszimmer war angelehnt, ein Musselinvorhang hatte sich in dem Spalt verfangen. Das Zimmer selbst lag im Dunkeln. Er ging langsam darauf zu.
Die Briefe, so vermutete er, waren wohl in dem stets verschlossenen Zimmer, das rechts vom Arbeitszimmer lag, aus dem er nun kam. Um ganz sicherzugehen, dass Riley nicht doch zu Hause war, spähte Lucas noch rasch ins Wohnzimmer, dann ging er zu der verbotenen Tür. Zu seiner Überraschung war sie unverschlossen. Das Gefühl, dass Antoney anwesend, in seiner Nähe war, verstärkte sich noch, als er hineinging. Es war ein kleines Zimmer, ein unbezogenes Doppelbett, ein Schrank und Nachttisch standen darin. In dem fahlen Licht, das vom Korridor aus hereinfiel, war nichts sonst zu sehen, und so wagte es Lucas, das Licht anzuschalten, eine nackte Glühbirne.
Der Raum passte in keiner Weise zu der übrigen Wohnung. Er war vollkommen karg, nirgendwo eine grüne Schachtel, im Schrank hingen nur Bügel und ein einsamer Salz-und-Pfeffer-Mantel, auch unter dem Bett war nichts. Lucas ging zurück ins Wohnzimmer, um hemmungslos in den staubigen Schränken zu suchen, unter dem Sofa, hinter dem Fernseher, dann in den Küchenschränken, im Badezimmer. Wenn sie nicht im Arbeitszimmer und auch keinem der anderen Zimmer war, wo war sie dann? Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf Riley zu warten. Unruhig setzte er sich auf seinen Stammplatz, auf das eingesunkene Sofa; das Mondlicht warf seltsame Schatten durch die wehenden Vorhänge hindurch.
Lucas kannte inzwischen jeden Winkel dieses Zimmers, jedes Buch und jede angeschlagene Porzellanballerina auf den überladenen Borden, jedes Objekt und jedes Möbelstück, jede seltsame Paarung, die viktorianische Zeitungsablage, der brandneue Stuhl. Und er hatte niemals vergessen, was ihm Riley über die französischen Fenster gesagt hatte, dass dies der Platz sei, der die stärksten Erinnerungen an Antoney barg, der Platz, an dem er sich angelehnt hatte, von den wehenden Vorhängen umspielt. Lucas fand das alles sehr traurig, als er im Dunkeln wartete. Was bewog einen Menschen dazu, so lange an einem anderen festzuhalten? So wollte er nicht enden, alleine, in der Gruft eines toten Mannes, wie ein Fossil.
Der Schreibtisch war unordentlich, das kannte Lucas so nicht – sonst war er immer sauber und aufgeräumt. Zu beiden Seiten der Schreibmaschine lagen Papiere, lose Bögen, ein offenes Notizbuch, einige Akten lagen auf dem Boden neben dem Stuhl. In der Schreibmaschine steckte ein Blatt. Riley musste das Haus mitten während der Arbeit verlassen und vorgehabt haben, nach seiner Rückkehr fortzufahren. Angeblich schritt das Buch in letzter Zeit gut voran und stand kurz vor dem Ende. Der letzte Abschnitt, den Lucas lesen durfte, handelte von Antoneys Arbeit nach der Europatournee, und Riley hatte dabei auf ein Verhältnis mit einem obskuren Society Girl angespielt. Lucas kam in diesem Moment in den Sinn, dass die Antworten, die er suchte, womöglich schon geschrieben waren. Er stand auf, ging zum Schreibtisch und spähte auf das Dokument in der Schreibmaschine. Er konnte nichts entziffern. Er holte tief Luft und schaltete die Schreibtischlampe ein. Es waren nur wenige Zeilen. Sie waren mit »Der Sprung« übertitelt.
Er war gerade dreißig, das Midnight Ballet hatte sich lange schon aufgelöst, da war auch seine eigene Karriere an ihr
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