Als würde ich fliegen
Monate hinweg im Jahr 1983 Antoneys Fortschritte verzeichnete, seine Medikation, Lithium, Carbamazepin, was er aß, wann er nicht aß, wie er sich benahm, bei welchen Gelegenheiten er sprach. Die Diagnose lautete manisch-depressiv. Antoney glaubte, er hätte ein mannshohes Holzkreuz gebaut, das er umhertrug und eines Tages in einen Creek gestoßen hatte. Auf die Frage, warum er glaube, dies getan zu haben, sagte er: »Es gefiel mir nicht.« Der letzte Eintrag lautete: »Entlassen«. Es fand sich kein Hinweis darauf, was im Anschluss mit ihm geschehen war.
»Warum hast du nicht gewartet?«
Riley stand in der Tür, in der Hand eine Einkaufstüte aus dem Kiosk. Lucas war viel zu verwirrt, um Schuld oder Angst zu empfinden. Der alte Mann wirkte ungepflegt, so aschfahl und düster wie nie.
»Ich habe gewartet.«
»Nun, jetzt kannst du gehen. Ich heiße es nicht gut, wenn du hier eindringst und durch meine Sachen wühlst.«
»Sie hätten es mir sagen sollen«, erwiderte Lucas. »Sie wussten das doch die ganze Zeit. Warum haben Sie mir nichts gesagt?«
»Ich dachte, es wäre am besten, wenn du das in meinem Buch liest.«
»Das ist eine faule Ausrede.«
»Steh bitte von meinem Stuhl auf.«
Lucas gehorchte. Stehend schaute er zu, wie Riley die Papiere zu einem Stapel neben der Schreibmaschine ordnete; er wurde von einer heißen Wut gepackt. »Weiß meine Schwester Bescheid?«
»Ich kenne deine Schwester doch gar nicht.«
»Das glaube ich nicht.«
»Nun, wie auch immer«, sagte Riley, »jedenfalls wird das zu einer Belastung für mich. Du behandelst mein Haus, als wäre es eine Bibliothek oder ein Museum. Du kannst nicht einfach hier hereinkommen und in allem herumwühlen, wie es dir passt. Wie bist du überhaupt reingekommen?«
»Aber das ist ein verdammtes Museum«, sagte Lucas.
»Ich sage es jetzt noch ein Mal – raus, oder ich rufe die Polizei.« Riley hatte offensichtlich Angst, denn er spähte furchtsam zur Tür, als wäre ihm gerade aufgegangen, dass er gar kein Telefon besaß.
»Was, glauben Sie, werd ich tun?«
Die Kiff-Wunde hatte einen Flecken an Lucas’ Nasenspitze gebildet, was er bis zu diesem Moment vergessen hatte. Sie ließen sich nicht aus den Augen, Riley reckte den Hals. In seinem Gesicht stand die ganze Traurigkeit von Beaumont, all die Jahrzehnte, in denen er sich immer und immer wieder damit befasst hatte, die schreckliche Schlussfolgerung. In diesen wenigen Momenten fühlte sich Lucas dem alten Mann zum ersten Mal nahe, fühlte er, dass sie beide das Gleiche suchten.
»Wie lange war er da?«, fragte Lucas schon ruhiger.
»Etwa drei Jahre.«
Wieder scheute Lucas davor zurück, mehr zu erfahren, herauszufinden, weshalb er dorthin gekommen war. Ihn beschäftigte weit mehr die Hoffnung, die an dem Wort »entlassen« hing. »Wohin ist er dann gegangen?«
»Was meinst du damit?«
»Wohin ist er gegangen, als er rausgekommen ist?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Wie das denn? Sie sind doch angeblich fast fertig. Sie können doch nicht fertig sein, wenn Sie nicht wissen, was passiert ist.«
»Ich …« Riley wandte sich ab und zupfte an seinem Bart herum. »An der Stelle bemühe ich die künstlerische Freiheit.«
»Was?«
»Ich denke es mir aus.«
»Blödsinn, so was darf man bei Biografien doch nicht.«
»Ist das nicht ein wenig naiv, zu glauben, dass es dabei lediglich um Fakten geht, von Anfang bis Ende?«
Ein Luftzug blähte die Vorhänge ins Zimmer, er wehte Antoneys Geist herüber und machte sie beide nervös. Riley schloss die Türen.
»Aber er hat doch gesagt, er ist nicht tot«, sagte Lucas. »Im Brief steht, er ist nicht tot.«
»Das war bloß eine Umschreibung. Das war doch nicht wörtlich gemeint, und wie denn auch? Aber angesichts seines damaligen Geisteszustands müssen wir wohl …«
»Und wo ist er beerdigt? Wo ist der Grabstein?«
»Ich sagte doch, ich weiß nicht, was im Anschluss geschehen ist.«
Lucas fegte die Papiere mit einem Handstreich vom Schreibtisch. »Na schön, Herr Biograf. Welchen Mist haben Sie sich denn ausgedacht? Lebt er? Ist er in Jamaika, Frankreich, Putney oder wo? Ist er tot oder nicht?«
»Lucas, beruhige dich«, sagte Riley und gestikulierte wild.
»Erzählen Sie mir, was Sie sich über meinen Vater ausgedacht haben, über meine Familie, ohne mein Einverständnis. Erzählen Sie mir alles über die Lügen, mit denen ich aufgewachsen bin, na los! Sagen Sie mir, wie es ausgeht.«
»Es geht aus …«, begann Riley. »Lass meine Sachen
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