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Also lieb ich ihn - Roman

Also lieb ich ihn - Roman

Titel: Also lieb ich ihn - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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Fluchtgeschichten reichen weit zurück, ebenso weit wie die Geschichten unerwiderter Liebe. Keine vier Wochen nachdem Henry mir von Suzys Schwangerschaft erzählt hatte, hatte ich mich hier im zweiten Schlafzimmer von Lisas Haus in der Coal Street niedergelassen. Den Sommer über jobbte ich als Empfangsdame in einem französischen Restaurant, im August wurde ich von meinem jetzigen Arbeitgeber, der Praither Exceptional School, als Hilfslehrerin eingestellt. Zu Beginn wusste ich so gut wie nichts über Sonderschulpädagogik – meine einzige Erfahrung im Umgang mit geistig behinderten Kindern verdankte ich meinem Cousin Rory –, aber ich wollte unbedingt etwas Neues machen. Zwar verdiene ich jetzt nicht viel, allerdings sind die Lebenshaltungskosten in New Mexico auch nicht hoch. Im Februar habe ich meinen Studienkredit zur Gänze zurückgezahlt, was mich mit besonderer Freude erfüllt.
    Letzte Woche haben wir – die anderen Lehrerinnen, die in dieser Klasse unterrichten, heißen Beverly und Anita; die Klassenlehrerin, die allerdings nicht mitgegangen ist, weil sie die Kochzutaten für den Nachmittag bereitstellen wollte (die Kinder sollten lernen, wie man aus English Muffins Pizza machen kann), heißt Graciela – die Jungen in der Pause zum Spielplatz geführt. Dort übten ein paar Schüler Korbwürfe, während die anderen das Klettergerüst stürmten. Ich stand neben der Rutsche und hörte einem Jungen namens Ivan zu, der mir gerade erzählte, dass er einen Traktor kaufen wollte, als ich einen Aufschrei hörte. Es war Jason – der aufbrausende Junge mit |311| den Taschen voller Zeugs wie Striegel usw. Ich drehte mich um und sah ihn auf der Plattform sitzen, die beide Teile des Klettergerüsts miteinander verbindet, seine Finger waren in einem der Abflusslöcher steckengeblieben (das Klettergerüst ist für Kinder gedacht, die jünger und kleiner sind als meine Schüler). Ich stieg auf die Plattform und kniete mich neben Jason. Ich dachte, wenn er stillhält, könnte ich seine Finger herausziehen. Er kreischte und weinte, während ich so behutsam wie möglich an seinen Fingern zog, aber beide – Mittel- und Ringfinger –, ließen sich nicht bewegen. Anita und Beverly kamen zu Hilfe, inzwischen guckten uns alle Schüler zu.
    »Kann mir eine von euch vielleicht Vaseline besorgen?«, fragte ich die Lehrerinnen. »Oder Wasser und Seife?«
    »Wir bringen die Kinder wieder rein«, sagte Anita.
    Als außer uns niemand mehr auf dem Spielplatz war, brüllte Jason immer noch. »Jason, was hast du da auf deinem T-Shirt?«, fragte ich. »Das ist doch ein Fisch? Ein Fisch aus Texas?« Er trug ein türkisfarbenes T-Shirt mit der Aufschrift SOUTH PADRE ISLAND. »Was ist das für ein Fisch?«, fragte ich.
    Sein Brüllen ließ etwas nach.
    »Mag dieser Fisch Bonbons?«, fragte ich. »Essen Fische überhaupt Bonbons? Nicht im wirklichen Leben, aber wenn es ein Filmfisch ist oder ein Phantasiefisch.« Das mit den Bonbons war ein billiger Trick – um die Schüler zum Mathelernen anzuhalten (Sie wissen sicher, dass bei weitem nicht alle Autisten geniale Mathematiker sind), und auch, um Einkaufen zu üben, wechselten sich die Klassen täglich mit Verkaufsständen ab. Unsere Klasse, die D4, verkauft Popcorn für dreißig Cent die Tüte; Bonbons werden von der D7 verkauft, die Klasse der Großen, und viele unserer Jungen, Jason nicht ausgenommen, sind ganz wild darauf.
    |312| Jason weinte nicht mehr. Ich zog ein Papiertaschentuch aus meiner Tasche und hielt es ihm hin. »Schnäuzen«, sagte ich. Er verzog das Gesicht und drehte den Kopf weg.
    »Ein Lolli vielleicht?«, sagte ich. »Kannst du dir einen Fisch vorstellen, der einen Lolli isst?«
    Er drehte den Kopf wieder zu mir. Aus den Augenwinkeln sah ich Graciela und die Schulkrankenschwester aus dem Gebäude treten, sie kamen auf uns zu. Jason starrte mich an. »Bist du vierzehn?«, fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf. »Du bist vierzehn«, sagte ich. »Stimmt’s? Du bist vierzehn Jahre alt. Ich aber bin erwachsen. Ich bin achtundzwanzig.«
    Er sah mich ungerührt an.
    »Achtundzwanzig ist zweimal so alt wie vierzehn«, sagte ich. Jason gab immer noch keine Antwort. Ich fragte: »Warum starrst du mich so an?«
    »Ich suche nach sozialen Hinweisreizen«, sagte er.
    Ich musste mir auf die Lippen beißen. »Das ist ja großartig!«, antwortete ich. »Jason, das ist wunderbar. Du tust genau das Richtige. Aber weißt du was? Wenn du nach sozialen Hinweisreizen suchst, teilst du das

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