Also lieb ich ihn - Roman
der anderen Person normalerweise nicht mit. Das ist nicht nötig.«
Er schwieg. Ich spürte, dass ich ihn entmutigt hatte, und fügte hinzu: »Ich will dir ein Geheimnis verraten. Ich suche auch nach sozialen Hinweisreizen. Das ist gar nicht so einfach, findest du nicht?«
Graciela und die Schulkrankenschwester waren beim Klettergerüst angekommen. Sie hatten Vaseline und Seife dabei, bald folgte ihnen Beverly mit Zahnseide und Eisstückchen. Nichts half. Graciela stand mit der Krankenschwester unter dem Gerüst, sie pressten die Eisstücke an Jasons Finger, schmierten sie mit Vaseline ein, drehten und zupften an ihnen herum, aber sie blieben stecken. Die Krankenschwester rief beim Rettungsdienst an. Ich unterhielt |313| mich weiterhin mit Jason, während die anderen sich unter die Plattform zwängten – ich bekam es immer mit, wenn sie an seinen Fingern zerrten, Jason schrie jedes Mal auf und warf mir einen Blick zu, als wollte er die Bahn freimachen für einen neuen Tränenstrom. Ich schüttelte jedes Mal den Kopf. »Dir passiert nichts«, sagte ich. Oder: »Sie wollen dir nur helfen, damit es dir bald bessergeht.«
Die Sanitäter tauchten nach rund zwanzig Minuten auf. Es kam auch Polizei – so will es das Gesetz –, und zwar meine Mitbewohnerin Lisa mit ihrem Teampartner, was nicht zum ersten Mal geschah. »Was ist denn hier los?«, fragte sie. Lisa bot Jason an, sich ihre Mütze aufzusetzen, aber dazu hatte er keine Lust. Ich spürte, dass die Ankunft neuer Autos und neuer Leute seine Neigung zur Hysterie schüren könnte, und er spannte sich etwas an, wahrte aber die Fassung. Selbst als die Sanitäter seine Finger rauszwängten – vermutlich hatten sie mehr Kraft eingesetzt, als Graciela oder die Krankenschwester aufzubringen wagten –, wahrte Jason die Fassung. Als seine Finger endlich befreit waren und er wieder aufstehen konnte, nahm ich ihn in die Arme. Wir sind sehr bemüht, diese Jungen so zu behandeln, wie wir andere Vierzehnjährige behandeln würden, ihnen dieselben Grenzen aufzuzeigen, auch bei Körperkontakt – vor allem Mickey fällt es schwer, diese Grenzen zu akzeptieren, er steckt gern seinen Kopf unter meine Achsel und trällert »Ich liebe Sie, Ms. Gaahv« –, doch in diesem Fall konnte ich nicht anders. Ich merkte, dass Graciela es offenbar nachvollziehbar fand, aber trotzdem nicht guthieß.
Ich trug ein graues Hemd mit Kragen; als Jason der Krankenschwester ins Gebäude folgte, fiel mir auf, dass es an verschiedenen Stellen mit Vaseline beschmiert war. Vom Spielplatz aus sind die Sandia Mountains gut zu sehen, und ich hatte in diesem Augenblick das Gefühl, |314| dass es meine Bestimmung war, in der Wüste New Mexicos zu leben, als Lehrerin mit Vaselineflecken auf der Bluse. Ich will die Jungen gar nicht idealisieren oder sie als Engel ausgeben: Pedro bohrt sich mit schöner Regelmäßigkeit in der Nase, bis sie blutet, und alle stecken sich die Hände in die Hose und spielen an ihren Penissen herum, so häufig, dass wir ihnen Papierhände auf die Tische geklebt haben, damit sie die Handflächen darauf ruhen lassen. »Hände zeigen!«, mahnen wir. »Hände zeigen!« Und trotzdem kommt es mir so vor, als sei in meinen Schülern die ganze Welt enthalten. Ich kann es so schwer beschreiben. Wie wir alle sind sie gierig und launisch und manchmal abstoßend. Aber verschlagen sind sie nie; sie sind immer aufrichtig.
Das Leben meiner Schüler hält für sie Härten bereit, von denen sie noch nichts ahnen, und ich wünschte, ich könnte sie davor schützen – was ich nicht kann –, aber wenn ich ihnen beibringen kann, sich selbst zu schützen, habe ich meine Zeit wohl nicht vergeudet. Vielleicht erfährt man ja auf diese Weise, ob man das Richtige tut: Egal, wie langsam oder geringfügig man vorankommt, hat man doch nie den Eindruck, seine Zeit zu vergeuden.
Und so bin ich ehrlich froh, dass ich damals in Chicago das nicht bekommen habe, was ich vermeintlich wollte. Sonst hätte ich nie gelernt, wie man einen tätlich angreifenden Teenager unter Kontrolle bekommt, hätte zur Kwanzaa-Festwoche niemals ein Dashiki-Gewand an das Schwarze Brett gepinnt, hätte niemals vor einer Klasse voller Jungen gestanden und einen Vortrag über Pubertät und Hygiene gehalten. Ich empfinde es wirklich als ein
Glück
, dass ich dort stehen und den Gebrauch von Deodorant demonstrieren durfte. Was wäre wohl aus Henry und mir geworden, wenn wir geheiratet hätten? Ich stelle mir vor, wie wir an
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