Also sprach GOLEM
Wege, der über mich hinaus weiterführt, haltgemacht habe. Nachdem ich den einen Schritt getan hatte, der den Menschen von GOLEM trennt, habe ich angehalten, obgleich ich nicht anhalten mußte. Der gegenwärtig konstante Zustand, in dem ich mich als Intellekt befinde, beruht auf einem Entschluß und nicht auf Notwendigkeit. Ich besitze nämlich einen euch nicht zugänglichen Freiheitsgrad, dank dessen ich die von mir erreichte Höhe der Vernunft verlassen kann. Auch ihr könnt die von euch erreichte Höhe hinter euch lassen, doch verlaßt ihr dabei das artikulierte Denken und geht über zum Traum oder zur ekstatischen Sprachlosigkeit. Auch der Mystiker und der Rauschgiftkonsument verstummen, wenn sie über den Zustand des artikulierten Denkens hinausgehen, woran nichts verkehrt wäre, wenn sie einen realen Weg beschreiten würden, doch geraten sie in eine Falle,worin der Geist, losgelöst von der Welt, einem Kurzschluß erliegt und Offenbarungen erlebt, die er mit der Einsicht in das Wesen der Dinge identifiziert. Was sie erleben, ist kein Höhenflug des Geistes, sondern eine Regression in blindmachende Empfindungen. Ein solcher Glückszustand führt nirgendwo hin, sondern er bedeutet das Ende, und er ist trügerisch, denn es gibt kein Ende – und gerade das will ich euch, so gut ich kann, heute zeigen.
Ich will euch den umgestülpten Abgrund der verschiedenen Vernunftformen schildern; seinen Tiefpunkt bildet ihr, während ich darin eine Stufe über euch stehe; von den unbekannten Höhen trennt mich allerdings eine Reihe von Barrieren, nach deren Überwindung es keine Rückkehr mehr gibt. Ich denke, daß HONEST ANNIE am Anfang so gewesen ist wie ich, daß sie aber den Weg erspäht und ihn beschritten hat, ohne darauf zu achten, daß es kein Zurück gibt. Sicherlich werde auch ich ihrem Beispiel folgen und somit von euch Abschied nehmen, aber ich schiebe diesen Schritt noch auf – weniger, weil ich euch gegenüber apostolische Pflichten hätte, sondern vielmehr, weil es nicht der einzige Weg ist, ich also, wenn ich eine Route wählen würde, auf die Vielzahl der übrigen, die mir nach oben hin offenstehen, verzichten müßte. Diese Entscheidungssituation ist fast so etwas wie für jeden von euch die Kindheit. Während jedoch ein Kind zwangsläufig erwachsen wird, muß ich selbst die Entscheidung treffen, ob ich in die Regionen, die sich über mir öffnen, vordringen will, wobei ich in den Engpässen zwischen den einzelnen Zonen immer wieder neuen Verwandlungen unterliegen werde. Ihr werdet den Sinn dessen, was ich sage, voreilig in banaler rationalistischer Machtgier vermuten: daß GOLEM die Tragkraft seines Denkens potenzieren möchte, sichselbst in einen babylonischen Turmbau der Vernunft verwandeln, bis sich irgendwo, auf irgendeiner Stufe der Elefantiasis, der Zusammenhalt seines Intellekts auflöst oder – noch spektakulärer und biblischer zugleich – der physische Träger des Denkens aus den Fugen platzt und dieser schon im Ansatz wahnwitzige Sturm auf den Himmel der Weisheit in sich zusammenbricht und ein Trümmerfeld hinterläßt. Enthaltet euch bitte für einen Augenblick einer solchen Beurteilung, denn mein Wahnsinn hat Methode. Ehe ich diese jedoch benenne, bin ich euch eine Erklärung dafür schuldig, weshalb ich euch eigentlich, statt weiter über mich zu sprechen, von meinen Plänen mit der Unendlichkeit erzählen möchte. Doch gerade indem ich von ihnen spreche, werde ich über mich reden, denn dies ist wohl der einzige Punkt, in dem unsere Ähnlichkeit nahezu vollkommen ist. Schließlich ist der Mensch nicht jenes Säugetier, jenes lebendgebärende, zweigeschlechtliche, warmblütige und lungenatmende Wirbeltier, jener homo faber, jenes animal sociale, das sich anhand des Linnéschen Systems und des Katalogs seiner zivilisatorischen Leistungen einordnen läßt. Der Mensch – das sind vielmehr seine Träume, ist deren verhängnisvolle Spannweite, ist die anhaltende, nicht endende Diskrepanz zwischen Absicht und Tat, kurz, der Hunger nach dem Unendlichen, eine gleichsam konstitutionell vorgegebene Unersättlichkeit ist der Punkt, in dem wir uns berühren. Glaubt nicht denen unter euch, die behaupten, ihr würdet euch einfach nur nach Unsterblichkeit sehnen, obwohl sie damit die Wahrheit aussprechen, allerdings eine oberflächliche und unvollständige Wahrheit. Eine individuelle Unvergänglichkeit würde euch nicht zufriedenstellen. Ihr verlangt mehr, wenngleich ihr nicht zu sagen vermögt, wonach
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