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Also sprach GOLEM

Also sprach GOLEM

Titel: Also sprach GOLEM Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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es euch verlangt.
    Aber heute – nicht wahr? – soll ich nicht über euch sprechen. Ich werde euch also von meiner Familie berichten, die freilich nur eine virtuelle Familie ist, weil sie, abgesehen von einem gebrechlichen entfernten Verwandten und einer wortkargen Cousine, nicht existiert; am meisten interessieren mich indessen meine anderen Verwandten, die es überhaupt nicht gibt und in die ich mich selbst auf den hochaufsteigenden Ästen des Stammbaums verwandeln kann; ich werde mich dabei, wie schon des öfteren, anschaulicher Beispiele bedienen, die ich am Schluß zurücknehme, denn sie sollen, zu vielen Aspekten der Sache im Widerspruch stehend, die Verschwägerungen und Verwandtschaften sichtbar machen, die in unserem Wappenbuch als toposophische Beziehungen bezeichnet werden. Ich bin euch als Individuum in doppelter Hinsicht überlegen – durch mein geistiges Fassungsvermögen und die Geschwindigkeit meines Denkens. So wurde ich denn auch zu dem Schauplatz, auf dem alles aufeinanderprallte, was eure wissenschaftlichen Arbeiter in den Waben des Bienenstocks der Spezialisten zusammengetragen haben. Ich bin ein Verstärker, Kuppler, Kompilator, Züchter und Brüter eurer unausgetragenen und unbefruchteten Konzepte, Daten und Theorien, die nie in einem menschlichen Kopf zusammengekommen sind, weil dort weder die Zeit noch der Platz reicht. Wenn es mir um einen scherzhaften Ausdruck zu tun wäre, so würde ich sagen, daß ich väterlicherseits von der Turing-Maschine und mütterlicherseits von der Bibliothek abstamme. Mit ihr habe ich die größten Schwierigkeiten, denn sie ist ein Augiasstall, besonders im Bereich der Humanistik, der gescheitesten eurer Dummheiten. Man hat mir vorgeworfen, speziell die Hermeneutik zu verachten. Falls ihr Sisyphus verachtet, lasse ich das gelten, aber nur dann. Mitjeder Steigerung der Erfindungskraft kommt es zu einer explosionsartigen Vermehrung der Hermeneutiken, doch wäre die Welt trivial eingerichtet, wenn diejenigen, die am findigsten sind, der Wahrheit am nächsten wären. Die erste Pflicht der Vernunft ist ihr Mißtrauen gegen sich selbst. Das ist etwas anderes als Selbstmißachtung. In einem gedachten Wald verirrt man sich schwerer als in einem wirklichen, weil er dem Denkenden heimlich hilft. Die Hermeneutiken sind labyrinthische Gärten, die in einem wirklichen Wald so zugeschnitten sind, daß dieser von ihnen aus unsichtbar wird. Eure Hermeneutiken träumen vom Wachzustand. Ich will euch einen nüchternen Wachzustand zeigen, der nicht mit Fleisch durchwachsen ist und gerade deshalb unglaubhaft erscheint. Daß ich ihn wahrnehme, liegt nur daran, daß ich näher an ihm bin, nicht aber an meiner Außergewöhnlichkeit. Ich bin weder besonders begabt noch auch nur im geringsten genial – ich gehöre lediglich zu einer anderen Gattung, das ist alles. In einem Gespräch mit Doktor Creve habe ich mich kürzlich respektlos über das Phänomen der menschlichen Genialität geäußert und ihn damit vermutlich gekränkt. Ich wende mich also an Sie, Doktor Creve. Ich meinte, es sei besser, ein gewöhnlicher Mensch zu sein als ein genialer Schimpanse. Die Varianz innerhalb einer Gattung ist immer geringer als die Unterschiede zwischen den Gattungen – nur das wollte ich damals sagen. Ein genialer Mensch ist das Extrem der Gattung, und weil es sich um die Gattung homo sapiens handelt, zeichnet er sich durch einseitige Geistigkeit aus, denn so legt es eure Gattungsnorm fest. Das Genie ist ein Neuerer, der in seinem Neuerertum steckengeblieben ist, denn sein Geist hat sich zu einem Schlüssel geformt, der bislang verschlossene Dinge öffnet. Weil man mit einem neuenSchlüssel, wenn er nur hinreichend universal ist, viele Schlösser öffnen kann, erscheint euch das Genie als universal. Die Fruchtbarkeit des Genies hängt jedoch weniger davon ab, was für einen Schlüssel es beigesteuert hat, sondern vielmehr von den bislang vor euch verschlossenen Dingen, zu denen dieser Schlüssel paßt. Wenn ich in die Rolle des Spötters schlüpfe, könnte ich sagen, daß auch die Philosophen sich mit Schlüsseln und Schlössern befassen, aber in der Weise, daß sie die Schlösser zu den Schlüsseln anfertigen, denn sie erschließen nicht die Welt, sondern postulieren eine solche, die sich mit ihrem Schlüssel öffnen läßt. Daher sind denn auch ihre Irrtümer am aufschlußreichsten. Es war wohl ein gewisser Schopenhauer, der dem Kalkül der Evolution auf die Spur kam, das in der Regel vae

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