Alta moda
daß der Holzfäller fort war. Er hatte mir einmal gesagt, ich brauchte keine Angst zu haben, wenn ich nachts mit den beiden anderen allein blieb, denn die hätten nach dem Abendessen nur noch ihr Kartenspiel im Kopf, und dabei würden sie trinken bis zum Umfallen. Trotzdem rief ich noch einmal aus Leibeskräften um Hilfe, weil mir eingefallen war, daß meine verstopften Ohren mich über die tatsächliche Lautstärke der eigenen Stimme täuschten. Aber auch jetzt kam niemand. War etwa keiner da? Seit dem Mittag hatte ich nichts mehr zu essen bekommen. Wie lange mochte ich geschlafen haben? Ob es schon Nacht war und die beiden, die nach Holzfällers Weggang noch da waren, zu betrunken, um mich zu hören? Bei dem Gedanken, ohne jede Orientierung angekettet in diesem winzigen Zelt ertrinken zu müssen, geriet ich in Panik. Ich stieß einen letzten lauten Schrei aus. Wenn die Wärter mich gehört hätten, wäre ich schon für halb soviel Lärm bestraft worden. Aber es geschah nichts. Nur der Donner grollte weiter, und ich weichte in meinem dunklen Verlies langsam durch. Ich tastete nach dem Reißverschluß. Und dabei fiel mir ein: Wenn es schon Nacht war, dann hätte man mir nicht nur das Abendessen bringen, sondern mir auch die Hand anketten müssen. Als ich den Reißverschluß gefunden hatte, zog ich ihn hoch und kniete mich vor den Spalt, ohne mich hinauszuwagen. Ich rief um Hilfe, doch niemand kam.
Da mein Augenverband dummerweise noch relativ frisch war und die Pflaster über der Nase ganz fest klebten, traute ich mich nicht, sie abzureißen. Offenbar hatte ich in meiner Panik vergessen, daß ich sowieso sterben mußte, die Regeln also jetzt hinfällig waren. Oder ich hatte mich so an die Rolle der Befehlsempfängerin gewöhnt, daß es mich selbst in dem Augenblick Überwindung kostete, das Unverzeihliche zu tun und das Versprechen, das ich dem Holzfäller gegeben hatte, zu brechen. Jedenfalls zupfte ich nur ganz zaghaft an den äußeren Klebestreifen und lockerte sie soweit, daß ich mit erhobenem Kopf unter den Wattebäuschen hindurchspähen konnte. Dann streckte ich den Kopf aus der Zeltöffnung und lugte nach draußen. Der Regen prasselte mir in Strömen aufs Haar, aber die Welt war pechschwarz. Man sah nicht die Hand vor Augen. Was war los? Wieso kam keiner? Ich raffte die Kette und kroch auf allen vieren ins Freie, wobei meine Hände immer wieder in Wasserlachen und Schlammstrudeln ausglitten. Ich hatte die Welt außerhalb des Zeltes nie gesehen. Dort drinnen kam ich zurecht, weil ich genau wußte, wo alles war, und der Tastsinn mir die Augen ersetzte. Hier draußen aber war ich verloren – bis auf einen einzigen Fixpunkt: meinen Baum. Und den würde ich finden, wenn ich meiner Kette folgte. Der Atem rasselte in meinem Kopf, als ich die Kette hochhievte und mich daran entlanghangelte. Als ich am Ziel war, umschlang ich den regennassen Stamm mit beiden Armen, lehnte die Stirn an die tropfende Rinde und suchte in dieser Berührung Trost und Halt. Die ganze Welt wurde mir unter den Füßen weggeschwemmt, und alles, was mir armen Gestrandeten blieb, waren meine Kette und mein Baum. Hatten sie sich entschieden und wollten mich nicht mehr umbringen, sondern einfach in diesem Unwetter meinem Schicksal überlassen? Für sie machte das wohl kaum einen Unterschied. Und wenn schon kein Geld winkte, dann suchten sie lieber so rasch wie möglich das Weite.
Was für einen Unterschied das für mich bedeutete… Wer weiß, vielleicht würden die Wildschweine mich anfallen und bei lebendigem Leib fressen, statt meinen Leichnam zu vertilgen, aber das lag so weit jenseits meiner Vorstellungskraft, daß es mich kaum berührte. Nein, für mich bestand der Unterschied darin, daß der Holzfäller mich hintergangen hatte. Er hatte versprochen, wiederzukommen. ›Ich bin für Sie verantwortlich.‹ Versprochen hatte er’s und mich dann hintergangen – das ertrug ich nicht. Verlassen von meinen Kindern, meinen Wärtern und dem Scharfrichter, dem ich vertraut hatte, sank ich, an meinen Freund, den Baum, geklammert, in den Schlamm nieder und ließ meinem tränenlosen Schluchzen freien Lauf. Ein Schluchzen, dessen dröhnendes Echo in meinem Kopf mir zusammen mit dem Baum viele Stunden Beistand leistete.
Dann änderte sich die Geräuschkulisse, und das monotone, animalische Ächzen in meinem Kopf hatte eine Begleitmelodie bekommen. Auch wenn ich mein Gewimmer ebensowenig hätte unterdrücken können wie das Luftholen, so sehr war es
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