Alta moda
hatte er nicht ahnen können, wie ernst die Sache war.
»Und Ihr Bruder weiß ganz bestimmt nicht, daß Sie hier sind? Falls er aus irgendeinem Grund Verdacht geschöpft hat, könnte er auch ohne Ihr Wissen mit den Entführern Kontakt aufgenommen haben.«
»Er rührt sich seit dem Abend nicht mehr vom Telefon weg, aber ich war die ganze Zeit dabei.«
»Sie meinen das Telefon bei Ihnen zu Hause?«
»Ja, natürlich.«
»Hm.« Demnach hatte tatsächlich noch kein Kontakt stattgefunden. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum Sie zu mir gekommen sind.«
»Zuerst war ich in Ihrem Präsidium in Borgo Ognissanti. Dort anrufen konnte ich nicht, das hätte Leonardo, der Tag und Nacht neben dem Telefon klebt, nie zugelassen. Aber vor dem Präsidium hat mich die Wache angehalten. Die wollten wissen, in welcher Angelegenheit ich käme, was ich ihnen ja schlecht auf offener Straße erklären konnte. Also habe ich nur gesagt, ich wolle eine Anzeige machen, und wurde an den Schalter gleich beim Eingang verwiesen, wo man Diebstähle und so weiter melden kann. Ich war schon mal dort gewesen, als man mir den Wagen gestohlen hatte. Die gaben mir ein Formular zum Ausfüllen, aber ich habe ihnen erklärt, ich sei nicht gekommen, um Formulare auszufüllen, sondern weil ich jemanden brauchte, bei dem ich mir Rat holen könne. Da haben sie mich zu Ihnen geschickt.«
»Hm.« Er konnte es seinen Kollegen kaum verdenken. Wenn man sich dauernd von Tagedieben und Querulanten die Zeit stehlen lassen muß… Und die schweigsame Signorina machte es einem wahrhaftig nicht leicht.
»Es hat mich große Überwindung gekostet, hierherzukommen. Wo die anderen doch so dagegen waren.«
»Die anderen?«
»Mein Bruder und Patrick Hines. Patrick ist Anwalt. Er vertritt unsere Interessen in New York. Er ist gleich nach Olivias Verschwinden rübergekommen. Zur Zeit ist er in London, um einen Privatermittler von einer großen Detektei zu engagieren. Er wird toben, wenn er erfährt, daß ich hier war. Alle beide werden mir die Hölle heiß machen, wenn es herauskommt, aber ich habe mich doch trotzdem richtig verhalten, oder? Juristisch gesehen?«
»Natürlich. Und jetzt zerbrechen Sie sich nicht länger den Kopf darüber. Der Schritt ist getan, und die anderen müssen sich damit abfinden. Falls man sie soweit bringen kann, uns nicht nur als notwendiges Übel zu dulden, sondern mit uns zusammenzuarbeiten, um so besser. So oder so werden sie sich vor lauter Sorge um Ihre Mutter gar nicht so sehr mit Ihnen befassen, glauben Sie mir.« Das Telefon klingelte. »Wären Sie so freundlich, einen Moment draußen im Vorzimmer Platz zu nehmen?« bat der Maresciallo, bevor er den Hörer abnahm.
Sie erhob sich, ohne ihren heimlich prüfenden Blick von ihm zu wenden. Er merkte erst jetzt, wie groß sie war. »Müssen Sie meinen Namen preisgeben? Könnten Sie’s nicht aus anderer Quelle erfahren haben?«
»Bitte… es dauert nur einen Moment, dann reden wir weiter.«
Er wartete, bis die Tür hinter ihr ins Schloß fiel.
»Guarnaccia?«
»Ja, am Apparat. Eine ernste Sache, ja. Die Contessa Brunamonti wird seit zehn Tagen vermißt. War gegen Mitternacht noch mal mit dem Hund draußen und ließ das Hauptportal offen, wie das so geht, wenn man nur auf einen Sprung aus dem Haus will. … Nichts, nur ein Stück von der Hundeleine wurde im Hof gefunden. … Ja, regelmäßig jeden Abend. Sträflicher Leichtsinn, gewiß… Der Palazzo Brunamonti an der Piazza Santo Spirito. Verläßliche Rückendeckung nicht, nein… Von der Tochter, aber nicht mal die ist wirklich überzeugt, könnte ihre Meinung jederzeit ändern. Zumal der Bruder und so ein Wirtschaftsjurist – Amerikaner – einen Privatdetektiv einschalten wollen…«
Mit einem resignierten Seufzer legte der Maresciallo den Hörer auf. Statistisch gesehen hatte sich das 1991 erlassene Gesetz, das die zuständigen Behörden ermächtigte, in Fällen erpresserischen Menschenraubs die Vermögenswerte der betroffenen Familien einzufrieren, trefflich bewährt: Die jährliche Zahl der Geiselnahmen war im Schnitt von einundzwanzig auf fünf gesunken. Die Kehrseite dieses Erfolges, die von der Statistik nicht berücksichtigt wurde, ging zu Lasten der Ermittler, die mit verschärften Problemen zu kämpfen hatten, weil die Angehörigen der Opfer oft nicht mehr zur Zusammenarbeit bereit waren, und zu Lasten der Geiseln, die für verzögerte Lösegeldzahlungen mit grausamen Foltern büßen mußten und die sich nach
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