Alta moda
ihrer Freilassung dem eigenen Umfeld so entfremdet fühlten, daß sie entscheidende Hinweise nicht preisgaben. Umgekehrt hatten die professionellen Erpresser sich rasch auf das neue Gesetz eingestellt und konzentrierten sich nun auf Opfer aus den Kreisen, deren politische Beziehungen ausreichten, ihnen unter der Prominentenklausel ›Zahlungsleistung im Dienste polizeilicher Aufklärung‹ wenigstens einen Teil der Lösegeldsumme aus der Staatskasse zu garantieren. Der Maresciallo bezweifelte, daß der Gedanke, ein Opfer unter fünfen statt eines unter einundzwanzig zu sein, der Contessa Brunamonti Trost spenden würde. Menschenleben eignen sich nicht für Zahlenspiele. Man kann das Leid des einen nicht gegen das eines anderen aufrechnen. Das ist bloß graue Theorie. Guarnaccia erhob sich. Er konnte nur hoffen, daß seine Vorgesetzten die Bitte der Tochter um Geheimhaltung respektieren würden – wenigstens fürs erste. Die Ermittlungen wären davon in diesem frühen Stadium kaum betroffen; dagegen würden sie sich einen schlechten Dienst erweisen, wenn ihnen die einzige Angehörige, die zur Zusammenarbeit bereit war, das Vertrauen entzog. Er öffnete die Tür zum Vorzimmer. Es war leer. »Lorenzini!«
Der junge Brigadieri war sofort zur Stelle.
»Haben Sie die junge Frau rausgelassen?«
»Ja. Hätte ich das etwa nicht…?«
»Schon gut. Sind Di Nuccio und der kleine Lepori schon fort?«
»Grade eben.«
»Wenn sie bloß meine Ratschläge von gestern abend beherzigen. Haben die Jungs noch was gegessen?«
»Ich denke schon.«
»Und Trinkwasser mitgenommen? Ich hab ihnen gesagt, da draußen gibt’s weit und breit kein Lokal.«
Er zog den Reißverschluß an seinem Parka hoch und drückte die Mütze tief in die Stirn. Nun war er gegen den stürmischen Wind draußen gerüstet. Auf der Treppe grummelte er unwirsch vor sich hin: »Man sollte doch meinen, ein Königshaus könnte sich eigene Leibwächter leisten. Muß die Armee denn für alles herhalten…«
Die grelle Wintersonne blendete ihn so, daß der Maresciallo, als er unter der hohen schmiedeeisernen Laterne durch den Torbogen trat, eilig seine dunkle Brille hervorkramte. Sobald er die lichtempfindlichen, leicht tränenden Augen hinter den getönten Gläsern in Sicherheit wußte, genoß er die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht und sog begierig die Morgendüfte ein, die der böige Bergwind ihm entgegenwehte. Doch kaum, daß er aus dem Schutz des Pitti hinaustrat auf den abschüssigen freien Platz vor dem Palast, da zwackte ihn – Sonnenschein hin oder her – der eisige Wind so erbarmungslos an den Ohren, daß er heilfroh war um seinen schweren, wetterfesten Parka.
Von der Piazza am Fuß der kleinen Anhöhe brandete ihm dröhnender Verkehrslärm entgegen. Aus dem Allegro-con-brio-Fahrstil, zu dem das herrliche Wetter die Florentiner inspirierte, wurde ein trauriges Staccato, sobald die Blechlawine an der Kreuzung Via Romana und Via Maggio unter frenetischem Hupen ins Stocken geriet. Um diesem Hexenkessel zu seiner Linken auszuweichen, ging der Maresciallo, als er die Piazza hinter sich hatte, geradeaus weiter und wählte eine kleine Seitengasse durch die enge Häuserschlucht, ein Sträßchen, das von parkenden Mopeds gesäumt, aber immerhin autofrei war. Von der Kirche aus machte er einen Schlenker über die Piazza Santo Spirito. Ein scheinbar unnötiger Umweg, hätte er doch ebensogut gleich über die Brücke Richtung Präsidium gehen können. Allein, er kannte den aufwendigen Apparat, den man jetzt in Gang setzen würde, und er kannte seinen befehlshabenden Offizier. In einem solchen Fall kamen Spezialisten zum Einsatz, eine Hubschrauberstaffel aus Livorno würde ein Sonderkommando einfliegen, wahrscheinlich hatte man auch eine Kooperation mit der Zivilpolizei vereinbart. Die entsprechenden Vorkehrungen waren sicher schon getroffen. Und zwar ohne sein Zutun. Aber der Capitano würde gewiß dafür sorgen, daß auch er zum Einsatz kam. Jemand mußte sich um die Familie kümmern, und Aufgaben dieser Art wälzte er gern auf ihn ab. Und darum bog Guarnaccia in weiser Voraussicht in die Piazza Santo Spirito ein, um erste Witterung aufzunehmen.
Gemächlich schlenderte er an Verkaufsbuden und Marktständen entlang, hörte die Handwerker sägen und hämmern und die fliegenden Händler mit derben Sprüchen billige Unterwäsche anpreisen, ließ sich von links Sägemehl und Kaffeeduft, von rechts Altkleidermief und frischen Fenchel um die Nase wehen.
»Morgen,
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