Alta moda
lockerten.
»Immer schön stilliegen und nicht dran rumfummeln. So ist’s gut. Gib her. Mit den Kleinen direkt über den Augen mußt du vorsichtiger sein.«
»Das Stilliegen macht mir nichts mehr aus. Ich habe über so vieles nachzudenken.«
»Zum Beispiel?«
»Heute habe ich mich an meine Studienzeit erinnert.«
»Du Glückliche! Ich mußte mit vierzehn von der Schule runter, und dann hab ich jahrelang nichts als Schafe gesehen, bis ich mich endlich selbständig machen konnte.«
»In welcher Branche?« Er antwortete nicht.
»Wenn Sie ein eigenes Geschäft haben, warum machen Sie dann so was? Aus Wut darüber, daß Sie nicht studieren durften? Ist das der Grund?«
»Nein, weiß Gott nicht! Ich mache das, weil ich keine andere Wahl habe. Ich bin mit fünfzehn von zu Hause ausgerissen und hier bei Verwandten untergekrochen. Ich dachte, ich könnte in Teilzeit als Hütejunge arbeiten und nebenher weiter zur Schule gehen. Vorsicht mit dem da, die Mullunterlage ist verrutscht.«
»Aua!«
»Gib her.«
Ich rieb mir die wunde, klebrige Stelle. »Und sind Sie weiter zur Schule gegangen?«
»Von wegen! Mit der Schule war es aus und vorbei. Gleich im ersten Jahr mußte ich als Provianteur bei einer Entführung mitmachen.«
»Aber später, als Sie älter waren, hätten Sie da nicht aussteigen können?«
»Niemals. Das lassen die Bosse nicht zu. Die halten einen auf immer und ewig fest. Du bringst mich zum Lachen mit deinen jämmerlichen Geschichten von Geldsorgen und schlechten Zeiten. Leute wie du wissen doch gar nicht, was Armut…« Er brach mitten im Satz ab, und statt seines Atems an meiner Wange spürte ich nur noch das Meeresrauschen in den Ohren. Er war auch nicht mehr neben mir, und als ich nach ihm tastete, schlug er meine Hand weg. Der Reißverschluß! Ich roch einen Fremden, der aber nicht hereinkam. Ich spürte, daß der Holzfäller nervös war. Der Mann draußen sagte etwas. Ich war mir sicher, daß das der Boss war. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, bis der Reißverschluß wieder zuging und ich spürte, wie sich der Holzfäller entspannte. Der Boss war fort. Das war nicht sein einziger Besuch. Ich hatte gelernt, die spannungsgeladene Atmosphäre zu deuten, die immer dann herrschte, wenn er erschien, aber nur dieses eine Mal wußte ich, daß er mich angesehen hatte. Und bald sollte ich auch erfahren, weshalb. Außer um den Zustand der Ware zu überprüfen, was vermutlich sonst der Grund seines Kommens war.
»Mach die Augen auf.« Ich gehorchte. Holzfällers Jeansjacke, seine kräftigen Hände, die das gebrauchte Pflaster zusammenknüllten, das olivgrüne Licht im Zelt.
»Sie hatten Angst, daß Sie blind werden, nicht wahr?«
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Gleich fing ich an, verstohlen das Zelt abzusuchen. Hatte er die Zeitung mitgebracht? Er trug natürlich an dem Tag eine Strumpfmaske, aber ich versuchte, in seinen Augen zu lesen.
»Die Zeitung. Sie hatten mir doch versprochen…«
Er hatte nicht die ganze Ausgabe mitgebracht, sondern nur die Seiten, auf denen etwas über die Entführung stand: das Titelblatt und eine Seite aus dem Innenteil. Auf dem Titelblatt war ein Foto aus meiner Mannequinzeit abgedruckt. Wieder eine Welt, die ich hinter mir gelassen hatte. Dann, auf der Innenseite… ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie mich das traf. Sie hatten sich ein Bild von Leo beschafft, das vor zwei Jahren aufgenommen worden war. Er blickte über die Schulter in die Kamera, die blonden Haare waren ein ganzes Stück länger als jetzt, und er trug einen bunt gemusterten Pullover. Man sah nur ein Eckchen davon, aber ich erkannte ihn trotzdem sofort wieder: weißgrundig, mit rot-grünem Norwegermuster. Es schien, als hätte man den Hintergrund absichtlich unscharf gemacht, aber vielleicht lag das auch nur an der Zeitungsreproduktion. Das Foto stammte von einem Skiurlaub und hing normalerweise an der Pinnwand in meinem Büro. Wie war es in die Hände der Journalisten geraten? Und Caterina! Mein kleines Mädchen. Auch von ihr war ein großes, wunderschönes Foto abgedruckt. Ich konnte nicht erkennen, wo das aufgenommen war, hielt es aber für neu. Sie können sich vorstellen, was ich empfand, als ich den Kragen meines eigenen Mantels erkannte. Die Erkenntnis, daß sie sich auf so kindliche Weise zu trösten suchte, brach mir das Herz. In meiner Schulzeit war es üblich, daß die Mädchen, die mit einem Jungen gingen, dessen Pullover trugen. Das war wie eine Umarmung, und man hatte den Geruch
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