Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)
Gebäude von Norilsk Nickel. 12.24 Uhr. Fast eine halbe Stunde Verspätung. Die Frau würde nicht kommen.
Zoe stampfte erneut mit den Füßen auf und schlug obendrein die in Fäustlinge verpackten Hände zusammen. Dann las sie zum x-ten Mal die Inschrift auf dem Sockel des Reliefs, und sie musste geseufzt haben, denn Ry sagte: » Nur Geduld. Sie wird kommen.«
» Ich habe mir gerade gedacht, wer immer dieser Bauarbeiter war, er kann nichts in Norilsk gebaut haben. Selbst mit Muckis wie den seinen springt hier niemand ohne Hemd herum. Man wäre in fünf Minuten zu Eis am Stiel gefroren. Und ich habe zu Hause Handtaschen, die größer sind als diese Spielzeugschaufel, die er… Hey, schau mal, Ry. Das Auto dort wird langsamer. Hoffentlich ist sie es.«
Eine silberne Limousine mit defektem rechtem Blinker hielt einen halben Block entfernt am Randstein, aber die Person, die ausstieg, war so eingemummt, dass Zoe nicht sagen konnte, ob es eine Frau oder ein Mann war. Aber wer immer es war, griff noch einmal in das Auto, zog einen übergroßen und offenbar sehr schweren Diplomatenkoffer heraus und trug ihn in eine nahe Bank.
Zoe seufzte wieder und sah zu der Digitalanzeige an dem Gebäude, aber dort wurde jetzt die Temperatur angezeigt. Minus neununddreißig Grad. Das kann nicht echt sein, dachte sie, denn dann wären wir tot und …
» Da ist sie«, sagte Ry.
Zoe folgte seinem deutenden Handschuh zu einer kleinen, schlanken Frau, die in einer schwarzen Pelzmütze und einem knöchellangen schwarzen Mantel aus einem städtischen Bus stieg. Sie kam entschlossen und selbstbewusst auf sie zu.
Der lange weiße Wollschal, den sie um den Hals trug, verdeckte teilweise ihr Gesicht, aber als sie sich näherte, stellte Zoe überrascht fest, dass sie noch sehr jung war, gerade mal zwanzig vielleicht.
Sie blieb vor Zoe stehen und sah sie an, während sie den Schal lockerte. Zoe erblickte ein blasses Gesicht mit durchscheinender Haut und feinen Zügen. Ihre Augen waren grau und voll Neugier.
» Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte sie schnell. » Bei diesem Wetter gehen die Busse immer kaputt. Großonkel Fedor hat Sie beide neulich gesehen. Er hat gehört, wie Sie in Ilias Bäckerei erzählt haben, Sie kämen aus Amerika, und nach dem See mit dem Wasserfall fragten. Und dass Sie Lena Orlowa, der letzten Hüterin, von der wir ein Foto haben, wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Zumindest dachten wir, dass sie die letzte war…« Die Stimme des Mädchens verlor sich, und es betrachtete Zoe wieder aufmerksam.
» Lena Orlowa war meine Urgroßmutter.«
Das Mädchen nickte, ihre Augen funkelten. » Die meisten glauben, dass Lena die letzte Hüterin war, weil sie getötet wurde, ehe sie ihr Wissen weitergeben und eine neue Hüterin salben konnte. Sie war Krankenschwester hier im Straflager, und sie wurde von den Wachen getötet, als sie diesem armen Zek, der ihr Geliebter war, bei der Flucht zu helfen versuchte. Aber es hat immer ein paar Leute gegeben, die hartnäckig den Gerüchten glaubten, dass sie davongekommen ist, weil die Geschichte einfach zu schön war, um nicht zu stimmen, hab ich recht? Und hier sind Sie, der lebende Beweis. Sind Sie jetzt die Hüterin?«
» Ja. Meine Großmutter Katja, Lenas Tochter, hat mich… gesalbt.«
» Gut. So soll es sein.« Das Mädchen wandte sich abrupt ab und sah an dem Denkmal hinauf. » Ich hoffe, Sie glauben nicht, dass dieser sowjetische Modelljüngling irgendeine Ähnlichkeit mit den Männern hat, die tatsächlich Norilsk erbaut haben.«
Zoe hätte angesichts dieses abrupten Themenwechsels geblinzelt, wenn sie nicht befürchtet hätte, dass ihr die Augenlider zufroren. » Wohl kaum. Ich meine, wer würde an einem Ort wie diesem ohne Hemd arbeiten?«
» Es ist weniger der Mangel an Kleidung als die Fülle an Fleisch. Die Männer, die Norilsk erbauten, waren Strafgefangene, denen man gerade so viel zu essen gab, dass sie am Leben blieben und arbeiten konnten, und sie arbeiteten, bis außer Knochen nichts mehr von ihnen übrig war. Wenn sie starben, wurden sie in Massengräbern verscharrt, und bis heute kommen ihre Knochen zurück, um uns zu verfolgen. Im Juni, wenn der Frost bricht, spült die Schneeschmelze sie aus der Erde, aber alle Leute hier tun, als würden sie nichts sehen.«
» Aber Sie tun nicht so«, sagte Zoe.
Das Mädchen lächelte. » Nein. Denn das würde bedeuten, sie zu verleugnen, nicht wahr?« Sie schlug sich den Wollschal wieder vors Gesicht. » So, jetzt
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