Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)
weiter. Zoe sah ihre Mutter heftig schlucken, aber sie sagte nichts mehr.
» Nein, was? Du glaubst es nicht? Weil sie bei einem Autounfall gestorben ist, als du elf warst? Bei schlechtem Wetter von einer Klippe gefahren und ins Meer gestürzt, sodass du in einem Waisenhaus aufwachsen musstest? Hast du sie tatsächlich tot gesehen, Mutter? Oder hast du das Ganze erfunden, um mich von ihr fernzuhalten?«
Anna Larina schien sie nicht gehört zu haben. » Sie ist so alt auf dem Bild.« Sie berührte leicht das Gesicht der Frau auf dem Polizeifoto. » All die Jahre habe ich sie im Geiste so gesehen, wie sie damals war. Jung und schön, so voller Leben und Lachen. Sie hatte das wunderbarste Lachen. Ich dachte immer an Rosenblätter, wenn sie lachte, weil sich der Laut an den Rändern so einrollte. Genau wie es Rosenblätter tun.«
Ihre Stimme verlor sich, und ihr Mund wurde weicher. » Komisch, dass ich gerade daran denken musste, und jetzt ist sie tot.«
» Nicht nur tot, Mutter. Ermordet. Oder erkennst du ein Tatortfoto nicht, wenn du eins siehst?«
Anna Larina schob das Bild von sich fort. » Doch, natürlich.«
Sie stand auf, ging zur Tür und schloss sie. Das Einschnappen des Riegels klang laut in der angespannten Stille.
Sie sah Zoe an und sagte schließlich: » Ich dachte, sie sei tot. Ich habe dich nicht angelogen, um dich von ihr fernzuhalten. Das ist lächerlich. Sie wollte mich nicht, wieso um alles in der Welt sollte sie dich wollen?«
Sie sagte es in diesem kalten, emotionslosen Tonfall, aber Zoe hatte eine düstere Gefühlsregung in den Augen ihrer Mutter auflodern sehen. Kränkung, sicher, aber noch mehr. Schuld? Zorn?
Zoe sah diese Frau an, die ihre Mutter war. Die wie gemeißelten Wangenknochen und die hohe Stirn, glatt wie eine polierte Muschel. Die grauen, weit auseinander stehenden Augen, die in den Winkeln nach oben gingen. Anna Larinas Alter war immer ein gut gehütetes Geheimnis gewesen, aber sie musste inzwischen fast sechzig sein. Dennoch schien sie in all diesen Jahren nicht um einen Tag gealtert zu sein. Ich könnte in einen Spiegel schauen, dachte sie, und die Vorstellung war so entsetzlich, als würde man ihr ein Messer im Leib umdrehen.
Wenn sie das Gesicht ihrer Mutter geerbt hatte, hatte sie dann auch deren schwarze Seele geerbt?
Anna Larinas volle Lippen verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln. » Wonach suchst du, Zoe? Das Zeichen Satans auf meiner Stirn? Nach dem Beweis, dass wir uns doch nicht ähneln? Davor hattest du immer Angst, oder? Deshalb bist du davongelaufen, deshalb unternimmst du deinen Kreuzzug für geschlagene Frauen. Du versuchst, dir Erlösung zu erkaufen, indem du Wiedergutmachung für meine Sünden leistest.«
Zoe fühlte einen heftigen Schmerz im Arm und merkte, dass sie ihre Hand krampfhaft zur Faust geballt hatte. Sie löste sie und zwang sich zu atmen. » Hör auf, dir zu schmeicheln. Im Augenblick will ich nur wissen, warum die Frau, die dich zur Welt gebracht hat, als Obdachlose bei den Säufern und Drogensüchtigen im Golden Gate Park endete.«
» Keine… Im Golden Gate Park?« Anna Larina fuchtelte in Richtung der Fotografie auf dem Schreibtisch. » War es dort, wo sie…«
» Ermordet wurde? Ja. Es geschah vor dem Conservatory of Flowers. Sie wurde mit einem Messer erstochen. Die Polizei wusste zuerst nicht, wer sie war…«
» Und doch sind sie schnurstracks zu dir geeilt mit ihrem Tatortfoto? Dann sind sie entweder Hellseher, oder du erzählst mir nicht alles.«
Himmel, die Frau schaltet schnell, dachte Zoe. Das durfte sie nie vergessen. Sie hatte beim Kampfsport gelernt, den Feind nicht in ihre Bewegungen und in ihren Kopf zu lassen; sie musste daran denken, dass Anna Larina ihr Feind war. Ihre Mutter war ihr Feind, und in tiefstem Herzen hatte sie das immer gewusst, seit sie ein kleines Kind war. Sie wusste nur nicht, warum.
» Bevor ihr jemand ein Messer bis zum Heft in die Brust stieß«, sagte Zoe bewusst drastisch, » gelang es deiner Mutter, einen Zettel zu schlucken. Oder halb zu schlucken. Darauf standen mein Name und meine Adresse.«
Wieder kräuselte ein Lächeln Anna Larinas Mund. » Gütiger Gott, wie wunderbar geheimnisvoll von der alten Frau. Sie wusste, wo du bist, und doch fand sie zwischen Bettelei und Kampieren im Freien nicht die Zeit, bei dir vorbeizuschauen, ehe sie erstochen wurde? Nein? Was für eine bewegende Szene uns allen erspart geblieben ist.«
» Um Himmels willen, Mutter.«
» ›Um Himmels willen,
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