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Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)

Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)

Titel: Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Carter
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jedenfalls, um allein durchzukommen.«
    Zoe hatte nichts von alldem je zuvor gehört. Es klang exotisch, abenteuerlich. Bis man ernsthaft darüber nachdachte, wie das Leben in einem sibirischen Gefangenenlager und einer vom Krieg verwüsteten Stadt wohl war.
    » Hat sie dir erzählt, wie sie von Hongkong nach L. A. kam?«
    » Nein. Aber sie konnte jede Menge Geschichten voll erstaunlicher Details über ihre Mutter Lena erzählen und deren wundersame Flucht aus Sibirien.«
    Die Worte ihrer Mutter trieften wie üblich vor Sarkasmus, aber Zoe hatte den Eindruck, in einer kleinen Ecke ihres verkümmerten Herzens war Anna Larina von dieser Familiengeschichte ebenso fasziniert wie sie selbst.
    » Was für Details zum Beispiel?«
    » Ach, wie Lena nur nachts ging, damit ihre in Pelze gehüllte Silhouette auf der schneebedeckten Tundra nicht herausstach, und wie sie sich Hütten aus Schnee baute und Feuer mit Moos machte, das sie von Steinen und Baumstämmen kratzte. Und wie sie sich ernährte, indem sie Rentiere molk und Fische aus Eislöchern angelte.
    Nach monatelangem Marsch erreichte sie schließlich einen grasbewachsenen Hügel über dem Fluss, der Russland von der Mongolei trennte, aß wilde Kartoffeln, die sie aus einem Feld gebuddelt hatte, und sah auf die roten Pfosten hinunter, die die Grenze markierten. Die Pfosten mit einem runden Metallschild obendrauf, auf das Hammer und Sichel gemalt waren, standen etwa im Abstand von einer Viertelmeile, und sie beobachtete sie zwei Tage und zwei Nächte lang, aber sie sah nie irgendeine Patrouille. Und so ging sie schließlich einfach von einer Seite der Pfosten auf die andere, nur ein weiterer Schritt von den unzähligen Tausenden, die sie seit ihrer Flucht aus Norilsk gemacht hatte.«
    Zoe konnte sich den Mut und die Willenskraft, die diese Flucht erfordert haben musste, nicht einmal vorstellen, und sie kam sich klein vor im Vergleich zu dieser Urgroßmutter, von der sie bisher nie gehört hatte.
    » Und was ist dann passiert?«
    » Sie marschierte weiter. Bis sie eines Tages auf einen verhutzelten alten Mann mit einem verfaulenden Sampan traf, der sie flussabwärts mitnahm, so weit er konnte, und dann an einen Großneffen übergab, der sie auf seinem Gemüsekarren mitfahren ließ. Der Großneffe hatte einen Freund, der als Bremser bei der Eisenbahn arbeitete, und der Bremser hatte einen Bruder und so weiter, und sie wurde quer durch China von einem zum anderen weitergereicht. Bis sie schließlich auf einer Müllschute nach Schanghai kam und die Wehen mit meiner Mutter einsetzten.«
    » Katja.«
    » Ja.« Anna Larina drückte ihre Zigarette in einem Kristallaschenbecher auf dem Schreibtisch aus. » Und Gott allein weiß, wer der Vater war… Ist das alles wirklich so wichtig, Zoe? Wen interessiert es? Lena ist lange tot und ihre Tochter jetzt ebenfalls, und so wie es aussieht, war sie obdachlos, eine Jammergestalt. Alt. Wahrscheinlich wurde sie wegen des halben Liters Whiskey erstochen, den sie in der Tasche hatte.«
    » Gott, was stimmt bloß nicht mit dir? Sie war deine Mutter. All diese fehlenden Jahre, wie ausradiert, ein Rätsel– und jetzt plötzlich ist sie da und wird umgebracht, und du benimmst dich, als könnte dir nichts gleichgültiger sein. Es ist doch offensichtlich, dass sie die ganze Zeit vor etwas weggelaufen ist.«
    » Ach ja?«
    » Du weißt, dass es so ist. Was hat ihr also damals in jenem Sommer eine solche Angst gemacht und hielt sie dann so lange in Angst? Wer wollte sie töten und warum?«
    » Ich weiß es nicht!«, schrie Anna Larina und schlug mit der Faust so heftig auf den Schreibtisch, dass die Lampe wackelte. Aber es war nicht Zorn. Zoe hatte ihre Mutter schon zornig erlebt, und das hier war etwas anderes.
    Zoe hob das Polizeifoto auf und steckte es in ihre Tasche. » Ich fahre ins Leichenschauhaus, um sie zu sehen. Willst du mitkommen?«
    Ihre Mutter machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern sah sie nur an.
    » Dann gehe ich davon aus, du hast nichts dagegen, wenn ich mich um die Beerdigung kümmere.«
    Darüber lachte ihre Mutter nur. » Also ehrlich, Zoe. Schamlose Menschen kann man nicht beschämen– das solltest du inzwischen wissen.« Anna Larina fuchtelte mit der Hand. » Mach mit ihr, was du willst. Falls es eine Rolle spielt, sie war russisch-orthodox. Du kannst mir ja eine Ankündigung schicken, wenn du alles geregelt hast.«
    Ein lastendes Schweigen senkte sich auf den Raum. Zoe stand mitten auf dem elfenbeinfarbenen

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