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Alte Liebe: Roman

Alte Liebe: Roman

Titel: Alte Liebe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Heidenreich , Bernd Schroeder
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wird Abend, und man liegt im Bett und fragt sich, wo der vergangene Tag ist, wozu er gut war, was er gebracht hat, wo ich eigentlich war an diesem Tag.
    Ich hab mir was angewöhnt: ich lasse jeden Morgen, wenn ich wach werde, die Augen noch für fünf Minuten geschlossen und denke: was muss ich heute tun, was kann ich heute tun, was möchte ich heute tun? Was muss weg, was wünsche ich mir und was wäre auch noch drin. Und abends ziehe ich Bilanz: was hab ich geschafft, was schon wieder verschoben, was hat mir Freude gemacht. Die Bilanzen sind meistens kläglich. Ich will so viel tun und strande schon früh an Kraftlosigkeit und, ich gebe es zu, an Stimmungen. Ich gehe dann in der Mittagspause statt mit Christa essen schnell zum Friedhof, zu Lenis Grab. Ausgerechnet ich. Und da steh ich dann und weine und frage sie und mich, was falsch gelaufen ist. Sie hat mich geliebt, das weiß ich, sie konnte es nur nicht zeigen. Hab ich sie geliebt? Jetzt, wo sie tot ist, fallen mir so viele schöne Situationen mit ihr ein. Wie wir zusammen Musik gehört haben. Wie sie an meinem Bett gesungen hat, als ich klein war. Und ich denke an Gloria, ich habe auch an ihrem Bett gesungen, dieselben ewigen Lieder vom Mond, vom Winter, da schneit’s den Schnee, im Sommer, da wächst der Klee, dann komm ich wieder. Ade nun zur guten Nacht, jetzt wird der Schluss gemacht. Wenn’s schneiet rote Rosen und regnet kühlen Wein, dann komm ich aber wieder, Herzallerliebste mein.
    Ich habe Gloria auch geliebt. Und ich habe mich nicht im zweiten Stock auf die Fensterbank gestellt und gesagt: die Mama springt runter, wenn du den Teller nicht leer isst. Leni hat so was gemacht. Und ich, ein kleines Mädchen, hatte Todesangst, dass sie springt, und hab das Essen runtergewürgt, die eklige Blutwurst, die Wirsingpampe. Wenn Gloria nicht essen wollte, hab ich sie nie gezwungen, ich hab einfach ihr Lieblingsgericht gemacht, Apfelpfannkuchen, Schokoladensuppe, sie musste nichts essen, was sie nicht wollte. Was war richtig, was war falsch? Ist es müßig, sich solche Fragen zu stellen? Gibt es Antworten? Worüber denkt Harry nach, stundenlang in seinen Beeten? Vielleicht gräbt er einfach nur und denkt: Erde. Wasser. Giersch. Schneckenkorn. Ein Garten ist im Grunde so sinnlos wie ein Haushalt: man putzt, es wird wieder dreckig, man putzt die Fenster, es regnet, sie kriegen Streifen. Man zupft Unkraut, es wächst nach, man fegt tonnenweise Laub zusammen, jeden Herbst wieder, wozu das alles. Ich möchte mal eine sinnvolle Antwort, eine einzige, auf alles. ›Du möchtest dir ein Stichwort borgen, allein: bei wem?‹ Von wem ist das? Gottfried Benn, ja, Gottfried Benn. ›Ach, eine Fanfare, doch nicht an Fleisches Mund, dass ich erfahre, wo aller Töne Grund.‹ Gottfried Benn. Mein Gottfried Benn, als junges Mädchen hab ich seine Gedichte in Schulhefte geschrieben, mit grüner Tinte, abgeschrieben und dabei auswendig gelernt, Gedichte haben mich getröstet. Auch das klappt heute nicht mehr. Sie geben mir keine Antworten auf meine Fragen. Aber ich weiß ja auch, dass es diese Antworten gar nicht gibt. All die Bücher in der ganzen riesigen Bibliothek handeln doch vom Suchen, Fragen, von der Enttäuschung, und je älter man wird, desto weniger funktioniert es mit dem Verdrängen. Früher konnte ich mich besser ablenken. Jetzt bohrt es in mir, jeden Tag. Die berühmte blöde Sinnkrise. Wozu das alles, wozu die Betten machen, den Garten ordnen, damit die Zeit rumgeht? Kann man Leben nicht anders füllen? War’s das schon?
    Ich würde so gern an irgendetwas wieder diese Freude haben wie früher. An den Büchern, an der Musik, an einem heißen Bad, an einem kalten Wein. Mir ist die Freude unmöglich geworden, mir ist das Glück abhandengekommen. Wie glücklich war ich damals mit dem jungen Hund, lange Spaziergänge, ich war stark, gesund, der Hund war voller Lebensfreude, das hat sich auf mich übertragen. Und jetzt, würde ich einen Hund wollen? Um Himmels willen, nein. Der Dreck, die Haare, das elende Zeug, das man jeden Tag kochen muss – Pansen, Reis, und dann raus bei jedem Wind und Wetter, das wär gar nichts mehr für mich, und außerdem, so ein Hund würde länger leben als ich, und dann? Vielleicht hätte Harry ja gern wieder einen Hund. Er sitzt zu viel zu Hause. Mit einem Hund würde er raus müssen, wir auch zusammen, abends noch ein schöner Gang … nein, und dann stirbt Harry plötzlich und ich sitz da mit dem kaputten Knie und einem Hund und kann

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