Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
davon noch meilenweit entfernt ist.«
»Aber wir müssen der Polizei doch alles sagen, was wir wissen?« Bärbel war nicht überrascht, als die Männer daraufhin in schallendes Gelächter ausbrachen.
»Jaja, ich weiß«, seufzte sie resignierend. »Das wäre viel zu voreilig und würde Kommissar Wollbrand den Spaß verderben.«
»Sie lernt täglich dazu«, schmunzelte Lorenz. »Es ist wunderbar, so ein schlaues Mädchen im Team zu haben.« Und zu Gustav gewandt fragte er: »Hast du noch einen Kaffee? Nach zwei Tassen schlafe ich besser.«
9. Kapitel
Der allererste Sonnenstrahl suchte sich zaghaft einen Weg vom Horizont in das Grau des neuen Tages. Zeit für den Morgenappell, dachte der Alte. Er hatte die Vorhänge einen fingerbreiten Spalt aufgelassen, sodass das noch schwache Licht durch ihn hindurchsickerte wie durch einen Schlitz, der so ähnlich auch einmal zwischen den Brettern einer zugigen Holzhütte gewesen sein mochte. Und wie in jener Zeit, in der Jakob Kratz das Schlafen verlernt hatte, in der er Nacht für Nacht auf den nächsten Tag, auf den letzten Tag, wartete, so hatte er auch jetzt wach gelegen. Er hatte die vielen Schattierungen von Dunkelheit beobachtet, das Schwarz der Stunden nach Mitternacht, das Anthrazit des heranbrechenden Morgens, das fahle Aschgrau, das sich mehr und mehr rot färbt, bis der erste Sonnenstrahl das Spiel beendet und man gut daran tut, sich von dem Signal, das zum Appell ruft, nicht überraschen zu lassen. Die Männer in den Uniformen wissen, dass du noch Kraft hast, im Körper und im Geist, dass du dich und die Welt noch nicht aufgegeben hast. Und deshalb prügeln sie dich, wenn du die Baracke verlässt, noch im Halbschlaf, sie hetzen den Hund auf dich, damit sie sehen, wie schnell du laufen kannst. Oder sie prügeln jemand anderen an deiner Stelle, einen Kameraden, der weniger verträgt als du, jemanden, der die Schläge nicht mit seinem Hass auffangen kann, jemand, der bereits über den Hass hinaus erschöpft und gebrochen ist.
Jakob Kratz erhob sich aus dem Bett und trat ans Fenster. Nein, er hatte sich nicht brechen lassen. Er hatte sich nicht aufgegeben. Doch es war nicht die Hoffnung gewesen, die ihn am Leben gehalten hatte. Die Hoffnung hatte er in Theresienstadt bei seiner Familie zurückgelassen, als man ihn nach Treblinka brachte. Von dieser Zeit an lebte er nur noch vom Hass. Der unbändige Hass auf die Folterknechte und Mörder, die bar jedes Sinns die Hölle auf Erden beschworen hatten. Zu aufsässig war der junge Jakob gewesen, zu energisch, als dass er noch länger in Theresienstadt hätte bleiben dürfen. Dort durfte man an Krankheit, Kälte, Unterernährung oder Verzweiflung sterben. Doch Jakob Kratz war suspekt, ja gefährlich gewesen, ein jugendlicher Querdenker schon in Friedenszeiten, ein Aufrührer aus Sicht der Männer in Uniform. Stark und starrköpfig, wehrhaft. In Treblinka sollte er verrecken. Doch er tat ihnen diesen Gefallen nicht. Er blieb wach und am Leben. Jakob wartete nicht auf Gelegenheiten, die vielleicht nie kommen würden. Er war ein Mensch, der Gelegenheiten herbeiführte. Und es gab andere wie ihn. Erfahrene, zähe Soldaten. Kluge Organisatoren, die einen jungen, hasserfüllten Überlebenskämpfer gut einzusetzen wussten. Durch diesen Spalt zwischen zwei Brettern hatte er die Dunkelheit beobachtet, sie geradezu hinweggestarrt und das erste Licht herbeigezwungen. Er musste noch bis zum Nachmittag warten. Dieser Tag war fast so lang gewesen wie die vorangegangene Nacht. Doch es war nicht die erhoffte Befreiung gewesen. Nur der Auftakt für noch mehr Gewalt, noch mehr Tod.
Jakob Kratz schob die Vorhänge beiseite und sah hinaus. Ein leichter, durchsichtiger Nebelschleier lag zwischen den Hügeln. Die grünen Wälder und darin versprengt die roten Sandsteinfelsen Nideggens waren genauso schön wie damals, als er sie vor acht Jahrzehnten als Kind durchstreift hatte. Heimat war das. Eine Heimat, die ihn ausgestoßen hatte, zu der er nicht mehr gehören durfte. Die Rur floss dort unten durch das Tal, als sei nichts geschehen. So wie das Wasser nicht hatte den Berg hinauffließen wollen, so wenig hatten die Nachbarn versucht zu verhindern, dass man ihn mit vielen anderen Nideggener Juden wie Vieh im Haus der Familie Schwarz zusammengepfercht und letztlich deportiert hatte. Die Namen seiner Eltern und Geschwister hatte er später, nach dem Krieg, in den Todeslisten gefunden. Er selbst hatte Treblinka überlebt und, nachdem man ihn nach
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