Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
dem misslungenen Aufstand von Treblinka halbtot geschlagen und weiter deportiert hatte, auch Sobibór.
Jakob schloss die Augen. Er konnte die vor seinem inneren Auge auftauchenden Bilder nicht mit dem in Übereinstimmung bringen, was er aus seinem behaglichen Zimmer der Seniorenresidenz sah. Seine starken Hände, die den Holzstiel fest umklammern, die matt schimmernde Schneide, wie sie in den fleischigen Rücken des SS-Scharführers eintaucht, das spritzende Blut, als er die Axt aus dem sich am Boden windenden Körper herausreißt, um noch einmal zuzuschlagen. Dann hinaus, nur schnell hinaus und durch die Bresche, die die Kameraden mit ihrem Fleisch in den Stacheldraht gerissen haben. Dann das Minenfeld, übersät mit zerrissenen Leibern.
Überlebt.
Jakob schüttelte müde den Kopf. Wozu überlebt? Gleich würden wieder Männer in Uniform kommen. Sie würden Fragen stellen. Was er in der Nacht am Waldrand gesucht hatte? Wie er im Dunkeln den Toten gefunden hatte? Oder ob er nicht gleich zugeben wollte, dass er den Knüppel geschwungen hatte? Worum war es in dem Streit mit Floto gegangen?
Die Sonne ging auf und machte sich daran, die feinen Nebelschleier zu vertreiben. Das Grün der bewaldeten Hügel wurde satter, der Himmel wurde des fahlen Graus überdrüssig und schmückte sich mit sanftem Kobaltblau. Jakob zog die Vorhänge ganz auf und beobachtete erstaunt, wie das Licht sein Zimmer in Besitz nahm. Niemand rief zum Morgenappell. Der Alte überlegte, ob es nicht angenehm wäre, sich noch etwas hinzulegen.
Der Frühstücksraum würde erst in zwei Stunden öffnen. Und jetzt war das Licht da.
10. Kapitel
Sie sind hier in meinem Haus, Herr Gerster.«
Sibylle Klinkenbergs Stimme ließ keinen Widerspruch zu. »Sie können jeden unserer Hausgäste befragen oder meinetwegen auch verhören, aber ich werde dabei sein, Anwaltsallüren hin oder her!«
Hauptkommissar Gerster atmete hörbar aus. Dann holte er tief Luft, als wolle er eine heftige Entgegnung loswerden, nutzte jedoch seinen Atem im Wesentlichen für einen Seufzer und fügte hinzu: »Wie Sie wollen, Frau Klinkenberg. Hier wird niemand verhört, wir befragen lediglich Zeugen. Und wenn Sie dabei sein wollen und die Betroffenen nichts dagegen einzuwenden haben – von mir aus gerne.«
Die Heimleiterin lächelte nachsichtig. »Sehen Sie. Und was trinkt man bei der Kripo Düren während einer Befragung? Dürfen wir Ihnen und Ihrem Mitarbeiter Kaffee servieren?«
»Sehr gerne, Frau Klinkenberg«, antwortete Bruno Gerster und hatte das Gefühl, gerade einen Blick auf die Zeit nach seiner Pensionierung zu erhaschen. Sein Beruf hatte ihn rascher altern lassen, als ihm lieb war. Auch wenn er noch zehn Jahre Kriminaldienst vor sich hatte, sah er sich schon jeden Morgen hier in dieser Cafeteria sein Frühstück einnehmen. Obwohl er sich die Seniorenresidenz Burgblick vermutlich nicht würde leisten können, dachte er bitter. Da musste noch einmal eine Beförderung her. Die Bezüge eines Hauptkommissars, abzüglich der Belastung durch zwei geschiedene Frauen nebst jeweils einem gemeinsamen Kind, würden für einen solchen Ruhesitz kaum reichen. Gerster wischte diese Gedanken beiseite.
»Gut, Frau Klinkenberg, dann rufen Sie mir doch bitte einmal« – er sah auf seinen Notizblock – »den Herrn Kratz.«
Die Heimleiterin verließ den Tisch, an dem der Kriminalbeamte saß, und sprach mit dem Küchenpersonal. Eine Mitarbeiterin kam mit einer Kanne Kaffee und mehreren Tassen herbei. Während sie eindeckte, fragte Gerster seinen Assistenten: »Dieter, was haben wir bis jetzt über diesen Kratz?«
Kommissar Dieter Maus blätterte in seinen Notizen. »Er hat den toten Wilhelm Floto gefunden und uns umgehend per Handy benachrichtigt. Der Anruf ging gestern Nacht um acht Minuten nach eins ein. Herr Kratz wohnt hier, er hat ausgesagt, dass er nachts nicht gut schläft und oft spazieren geht.«
»Das ist alles?«
Maus zuckte die Schultern. »Mehr haben wir ihn nicht gefragt, und mehr sagte er von sich aus auch nicht. Dann kam diese« – er wurde sehr leise – »dieser lange Drachen und meinte, wir dürften ihn heute Morgen ausgiebig befragen.«
»Na, dann werden wir das mal tun«, meinte Gerster, während die Küchenangestellte leise kicherte.
»Was?«, fragte der Kommissar.
»Ach nichts«, erwiderte die Frau. »Ich meine, das mit dem langen Drachen ist nicht schlecht.« Dann wurde sie schnell wieder ernst und fragte: »Ist denn unser Herr Kratz Mordverdächtiger?
Weitere Kostenlose Bücher