Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
Inhalt zu untersuchen. Briefe. Geschrieben von Pans, die sich im Gebiet der Großen aufhielten. Adressiert an Freunde, die in Eden oder anderen Pan-Siedlungen lebten. Und umgekehrt.
Was hat das …
Maylis überflog einige der Briefe.
Langsam setzte ihr Gehirn die Puzzleteile zusammen.
In einigen Briefen schilderten die Verfasser ihr neues Leben bei den Großen und erklärten, nicht bleiben, sondern bald zu den Pans zurückkehren zu wollen. In anderen brachten Bewohner von Eden ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck, nichts mehr von einem im Land der Großen verschollenen Freunde zu hören.
Maylis zählte eins und eins zusammen. Die Briefe, die Kloake, die Waffen, die gefangenen Pans und Grimms Worte. Die Männer des Unschuldstrinkers suchten unter den Freiwilligen, die in das Land der Erwachsenen zogen, gezielt nach Einzelgängern und entführten sie. Vermutlich erzählten sie den anderen Freiwilligen, die Pans wollten nach Eden zurückkehren, damit diese keinen Verdacht schöpften. Gleichzeitig schickten sie gefälschte Briefe nach Eden, damit man dort glaubte, die Entführten wären noch im Süden. Auf diese Weise waren die Pans zu beiden Seiten der Festung davon überzeugt, dass es ihren Freunden gutging, und niemand ahnte, dass sie eigentlich verschwunden waren.
Und alle Briefe, die das böse Spiel hätten auffliegen lassen, wurden von Colin abgefangen.
Er hatte gewiss einen Fälscher in seinen Diensten, der gekonnt die Schrift der Entführten imitierte. Vermutlich dachte dieser Kerl sich auch die Lügen aus, um die Pans in Sicherheit zu wiegen.
Plötzlich zuckte Maylis zusammen. Auf der anderen Seite der Tür kamen Schritte näher. Sie konnte gerade noch die Schublade zuschieben und sich unter den Schreibtisch werfen. Mit Hilfe ihrer Alteration verdunkelte sie den Schatten.
Colin kam ins Zimmer und schmiss eine Stofftasche auf die Schreibunterlage. Er ließ sich auf den Sessel sinken, der unter seinem Gewicht knirschte, und rülpste.
Was für ein Schwein!, dachte Maylis angeekelt. Ich muss abhauen, bevor er mich sieht. Meine Alteration reicht nicht aus, wenn er unter den Tisch schaut.
Colin schob einige Blätter zur Seite und hielt inne, als sein Blick auf das herausgebrochene Stück Holz am Boden fiel.
Jetzt ist es so weit! Die Schublade. Er hat mich ertappt!
»Was hat das zu bedeuten?«, brüllte er.
Colin sprang auf, öffnete die Tür mit einem Ruck und blieb auf der Schwelle stehen.
»Wer war in meinem Büro?«, bellte er. »Wer?«
Im Nebenraum herrschte betretenes Schweigen, und Maylis wurde klar, dass alle in der Poststelle ihn fürchteten. Colin war offenbar kein angenehmer Zeitgenosse.
»Meine Schublade wurde aufgebrochen! Jemand war in meinem Büro! Wer? Ich werde das melden! Ich warne euch!«
Und diese Meldung, da war sich Maylis sicher, würde nicht an sie und ihre Schwester gehen, sondern an den Unschuldstrinker.
»Ich war es«, sagte ein Junge schüchtern.
Maylis verstand die Welt nicht mehr. Was war da los?
»Tim? Du kannst was erleben …«
»Ich brauchte dein Siegel, um einen Brief wieder zu verschließen. Es tut mir leid.«
»Niemand hat das Recht, einen Brief zu öffnen, der von den Mitarbeitern der Festung versiegelt wurde!«
»Ich weiß, es war keine Absicht. In der Eile bin ich mit dem Umschlag irgendwo hängengeblieben und habe ihn aufgerissen. Aber ich habe den Brief nicht gelesen! Ich wollte nur meinen Fehler wiedergutmachen, sonst nichts!«
Tim war am Boden zerstört.
Maylis kroch auf allen vieren aus ihrem Versteck hervor und spähte an Colin vorbei in die Posthalle. Sie entdeckte Tim, einen kleinen Jungen mit langen braunen Haaren. Er hatte die Augen niedergeschlagen.
»Wenn du noch einmal ungefragt einen Fuß in mein Büro setzt«, drohte Colin, »verpasse ich dir eine Strafe, die du bis ans Ende deiner Tage nicht vergessen wirst, ist das klar?«
Tim nickte eifrig.
Maylis war völlig verblüfft.
Der Junge hatte ihr soeben einen großen Gefallen getan, und sie hatte keine Ahnung, warum.
Sie musste hier weg. Raus durch die offene Tür, während Colin abgelenkt war, und alles ihrer Schwester berichten.
Die Lage hatte sich verändert.
Alles war noch viel schlimmer, als sie gedacht hatten. Sie konnten nicht mehr auf die Boten zählen. Sie waren mit dem Unschuldstrinker in der Festung im Pass der Wölfe gefangen.
Vermutlich würde er seinen abscheulichen Plan bald in die Tat umsetzen.
36. Zwielicht
D as Segelschiff machte ordentlich Fahrt.
Angetrieben
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