Alterra - Der Krieg der Kinder: Roman (German Edition)
das?«
»Weil wir es wissen, deshalb!«
Ambre sah ein, dass es keinen Sinn hatte, ihn weiter zu befragen. Zwischen den beiden Stämmen herrschte eine Fehde, die keinen Raum für vernünftige Gespräche ließ. Niemand wusste eigentlich, wer als Erster hier oben gewesen war, und an sich war es ihnen auch egal; sie hassten sich, weil sie verschieden waren, und das reichte schon.
Ambre holte das Gefäß mit den Käfern und setzte sich auf eine Taurolle gegenüber von Steinbeißer.
»Warum tragt ihr eigentlich diese Masken?«, fragte sie und zeigte auf den weißen Schädel, der an seinem Gürtel baumelte.
»Um den Feind zu erschrecken. Das sind unsere Kampfmasken. Wir machen sie aus den Köpfen einer Art Seepferdchen, die wir unter der Oberfläche jagen.«
»Die armen Tiere.«
»Davon gibt’s Hunderte! Und irgendwas müssen wir ja essen. Das Fleisch schmeckt gut.«
Ambre wurde fast schlecht, als sie an das dachte, was sie im Taubenschlag verzehrt hatte.
»Was ist deine Alteration?«
»Meine Macht? Schau her, oder eher: Hör her!«
Er beugte sich über die Reling und stieß einen wilden Schrei aus. Das Volumen seiner Stimme stieg und stieg, sie wurde ohrenbetäubend laut und hallte einige Sekunden lang wider, als würde sie von zahllosen Echos zurückgeworfen.
Er drehte sich lächelnd um.
»Nicht schlecht, oder? Wenn wir auf der Jagd auf eine Horde Seepferdchen treffen, schreie ich los, und das verwirrt sie so, dass wir eines oder zwei fangen können.«
»Du hast viel gesungen, bevor … die Welt sich verändert hat, nicht wahr?«
»Stimmt. Woher weißt du das?«
»Die Alteration entwickelt sich aus einer Fähigkeit, die man schon vor dem Sturm hatte, oder aus einer Tätigkeit, die man seither oft ausgeführt hat.«
»Du kennst dich echt gut aus.«
»Es interessiert mich halt. Diese Käfer zum Beispiel enthalten einen Teil jener Energie, die alles im Universum miteinander verbindet.«
»Die Atome und das alles?«
Ambre erinnerte sich an Neils Vermutungen.
»Noch kleiner. Man nennt das die dunkle Materie. Es ist die Leere zwischen jedem Element. Diese Leere ist Energie.«
Beim Gedanken an Neil wurde ihr ganz schwer ums Herz. Sie konnte seinen Tod noch immer nicht fassen.
»Wenn ich also lerne, die dunkle Materie der Käfer zu benutzen, dann kann meine Stimme noch mächtiger werden?«
Ambre nickte.
»Aber sei vorsichtig. Du hast keine Ahnung, welches Potenzial sie in dir wecken werden. Bevor du sie benutzt, musst du deine Alteration voll und ganz beherrschen. Kannst du die verschiedenen Luftschichten spüren, wenn du dich konzentrierst?«
»Was? Kannst du das etwa?«
»Ich habe große Fortschritte im Umgang mit den Käfern gemacht, aber ich war auch vorher schon recht geübt.«
»Okay. Bring es mir bei!«
Ambre schob das Gefäß beiseite und begann, ihn die grundlegenden Dinge zu lehren: die Konzentration, die haarscharfe Wahrnehmung, die Lenkung des Energieflusses.
Der Unterricht brachte ihr die Carmichael-Insel in Erinnerung, und sie dachte wehmütig an diese Tage zurück.
Sie nahm Steinbeißer das Versprechen ab, dass er das Skaraheer erst dann benutzen würde, wenn er seine Alteration vollkommen beherrschte. Stolz nahm der Junge den Behälter und verstaute ihn vorsichtig in einem Kasten.
Sie aßen auf Deck zu Abend, während die Wachposten am Ausguck aufmerksam nach dem Großen Nest Ausschau hielten.
»Die Stimmung an Bord ist seit einer Weile ziemlich angespannt«, meinte Ambre.
»Tja, uns steht kein freundschaftlicher Empfang bevor. Bestenfalls schicken sie eins ihrer Segelschiffe, um uns zu befehlen, augenblicklich kehrtzumachen. Schlimmstenfalls beschießen sie uns mit einer ihrer ausgeklügelten Waffen, sobald sie uns sehen.«
»Habt ihr denn nie versucht, mit ihnen ins Gespräch zu treten?«
»Doch, ganz am Anfang. Aber sie gehen einem total auf den Geist mit ihrem Gehabe und ihrem arroganten Getue, nur weil wir nicht so sind wie sie! Sie halten sich für die Auserwählten eines Baumes!«
»Ich weiß.«
»Das ist doch Schwachsinn! Sie haben uns wie ihre Diener behandelt, und das haben wir uns nicht gefallen lassen. Sie waren wütend, weil wir an ihrem Glauben gezweifelt haben, und von da an war es aus.«
»Noch ein Religionskrieg«, murmelte Ambre.
»Wie bitte?«
»Ach nichts. Und wie wollt ihr ihnen heute Abend begegnen? Können wir ihnen irgendwie zu verstehen geben, dass wir in friedlicher Absicht kommen?«
Steinbeißer verzog das Gesicht.
»Nein, das geht leider
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