Alterra - Der Krieg der Kinder: Roman (German Edition)
Lebensenergie. Tobias konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Seine Arme hingen schwer herab, und selbst seine Gedanken waren dumpf und träge geworden.
Alles war so schnell gegangen.
Als ihn das schwarze Tuch des Torvaderon verschluckt hatte, war er durch nasskalte Röhren in einen endlos langen Darm aus feuchtem Gewebe geglitten, bis er schließlich auf dem steinernen Boden einer finsteren Höhle liegen blieb. Dort tastete ihn etwas Widerwärtiges ab. In der Dunkelheit vernahm er nur das Schaben von dünnen Gliedmaßen auf dem Fels und ein sabberndes Geräusch, das sich anhörte, als käme eine gigantische Zunge aus einem geifernden Maul geschossen. Dann rollte ihn das Etwas bis an die Wand und zog sich zurück.
Seitdem war es zweimal zurückgekommen.
Jedes Mal erloschen die Kristalle, als fürchteten sich sogar die Wände vor dem, was geschehen würde. Die Tür ging auf, und das Etwas tippelte herein. Seine zahlreichen Glieder zermalmten die Knochen, die überall verstreut lagen; sein Körper musste riesig sein.
Es tastete sich von einem wimmernden Gefangenen zum nächsten. Sobald es einen gefunden hatte, der ihm zusagte, schleppte es ihn in die Mitte der Grotte und verzehrte ihn mit Genuss.
Tobias hatte dieser Kreatur den Namen Verschlinger gegeben.
Wenn der Verschlinger nach über einer Stunde mit seinem Opfer fertig war, blieben nur ein paar abgenagte, warme Knochen zurück.
Als Tobias zum ersten Mal Zeuge dieses grauenhaften Spektakels geworden war, hatte er versucht zu fliehen. Doch der Ausgang wurde von einem Gitter versperrt, dessen Stangen mit einer klebrigen Substanz bedeckt waren. Nur mit Mühe hatte sich Tobias wieder davon losreißen können.
Seither versteckte er sich in seiner Nische und zuckte aus Furcht vor der Rückkehr des Verschlingers beim geringsten Geräusch zusammen.
Dieser Ort war ihm ein Rätsel. War das die Welt, aus der der Torvaderon stammte? Befand er sich weit weg von der Erde?
Tobias wusste, dass er nicht tot war, noch nicht, denn er atmete, er spürte die Kälte und empfand schreckliche Angst. Trotzdem begriff er nicht, was ihm passiert war.
Vielleicht wussten ja seine Mitgefangenen mehr als er.
Nur eines war klar: Die Zeit lief gegen ihn.
Früher oder später würde der Verschlinger ihn auswählen.
Verzweifelt dachte Tobias an seine Freunde.
Ambre und Matt.
Aus seiner eiskalten und finsteren Höhle rief er nach ihnen, stumm und flehend.
Sie waren seine einzige Hoffnung.
6. Schmerz, Hoffnung und Hass
A mbre bestrich gerade ein warmes Brötchen mit Schneckenmarmelade, als Matt zu ihr stieß. Sie saß ganz allein inmitten der Tische und Stühle im großen Saal des Hauses der Gesandten.
Die Sonne war soeben aufgegangen, und lange, goldene Strahlen fielen durch die Fenster.
»Ich habe mich entschieden. Ich begleite dich zum Steinernen Testament«, sagte er.
Ambre ließ das Brötchen sinken.
»Danke«, antwortete sie leise. »Ich weiß, wie schwer das für dich ist.«
»Ich komme mit, weil wir zusammen stärker sind, und ich glaube, dass wir scheitern würden, wenn wir uns trennen. Aber Tobias gebe ich noch nicht auf. Sobald wir Wyrd’Lon-Deis wieder verlassen haben, mache ich mich auf die Suche nach ihm.«
Ambre nickte stumm. Sie teilte seine Überzeugung zwar nicht, wollte ihm die Hoffnung aber nicht nehmen. Es war schwierig genug für Matt, mit dem Verlust seines Freundes klarzukommen. Sie selbst trauerte lieber im Stillen um Tobias und befürchtete, dass die Wunde nur neu aufreißen würde, wenn sie sich falsche Illusionen machte.
Matt setzte sich zu ihr und begann mit großem Appetit zu essen.
»Wie bringst du so was nur runter?«, sagte er und verzog das Gesicht, als sie wieder Schneckenmarmelade auf ihr Brötchen strich.
»Das schmeckt super, ehrlich, es erinnert mich an die bittere Orangenmarmelade meiner Großmutter. Ist Plusch nicht bei dir?«
»Nein«, antwortete Matt betrübt. »Sie war über Nacht draußen. Seit gestern Abend starrt sie unentwegt auf den Wald im Südwesten von Eden und weicht nicht vom Fleck.«
»Glaubst du, dass sie Gefahr wittert?«
»Keine Ahnung. Sie knurrt nicht, sondern sitzt nur reglos da und schaut in die Ferne.«
Da betrat Ben den Saal, schenkte sich von dem Orangensaft ein, den Ambre frisch gepresst hatte, und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
»Kennst du den Wald, der südwestlich von Eden liegt?«, fragte Ambre ihn.
»Ja, wir haben ihn den Fruchtbaren Wald genannt, weil es darin Obstbäume, essbare
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