Altes Herz geht auf die Reise - Roman
der Kurbel, lief wieder zum Volant, stellte an den Hebeln und warf von neuem an.
Rosemarie war sich sehr deutlich all der Gesichter dort oben, hinter Scheiben und Gardinen, bewußt, und sie flehte inbrünstig, daß der Motor gleich, gleich anspringen möge, damit diese Gesichter nicht gar zu höhnisch wurden.
Doch Doktor Kimmknirsch mußte erst einige Male die Zündung anders einstellen und im Gesicht vor Anstrengung dunkelrot werden, ehe der Motor ansprang.
»Na also!« sagte er und hatte sich kein bißchen geärgert. »Tücken haben diese Dinger –!«
Er löste die Bremse, drückte auf den Gummiball, und mit einem hohen Aufschrei setzte sich, klirrend und klappernd, der Wagen in Bewegung. Gleichmäßig lief er die Straße zum Bahnhof hinauf, was an Menschen unterwegs war, stand und starrte. Dann holperte er sachte (»Hoppla«, rief der Doktor) über die Kleinbahnschienen, und nun lag das offene Land vor ihnen.
»Fahren Sie zum erstenmal in einem Automobil?« fragte der junge Arzt.
Rosemarie hätte aus irgendeinem, ihr zur Zeit unklaren Grunde gar zu gern »Ja« gesagt, aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, mußte sie doch gestehen, daß dies ihre zweite Fahrt sei … »Aber damals war es nichts.«
»Warum denn nicht?«
»… Es regnete.«
»So!« sagte Doktor Kimmknirsch, und es klang, als ob auch er nicht ganz zufrieden sei. Darauf schwiegen beide.
Schon waren die Felder der Kriwitzer Ackerbürger vorüber, schon fuhren sie zwischen Hecken – und Rosemarie wurde es schrecklich klar, daß sie schon in zehn Minuten bei Schliekers sein würden und daß es dann wieder vorbei sein würde mit Freiheit, Freunden, Autos! Daß es dann wieder nur Arbeit, böse Worte, traurige, graue Stimmung geben würde …
Das Ende der Fahrt, deren Anfang sie noch vor fünf Minuten so sehnlich erwünscht hatte, war so nahe, daß sie die Augen schloß und leise aufseufzte.
Für diesmal merkte der Menschenarzt nichts. »Ver fluchte Töle!« schrie er und zog die Bremse.
»Wildes Gekläff und Gebell!«
»Bello!« rief Rosemarie. »Herr Doktor! Herr Doktor! Es ist mein Bello! Bitte tun Sie ihm nichts …«
»Uns möchte er was tun!« schrie der Doktor, fuhr direkt auf die Hecke zu, um dem wutblinden Köter auszuweichen, und ließ dabei die Hupe heulen wie das Nebelhorn eines Dampfers. Die Ruten der Hecke peitschten in den Wagen, dann gab es einen Ruck, und das Automobil stand.
»Bello! Bello!« rief Rosemarie und mühte sich mit der Wagentür. »Wir haben dir doch nichts getan?!«
Die Hunde von 1912 haßten Automobile noch inniger als den Briefträger; Bello konnte es nicht begreifen, daß seine geliebte Herrin in diesem Scheusal war. Mit weit offenem Maul, gesträubtem Haar und funkelnden Augen heulte er Wagen und Insassen wütend an.
Dann aber war Rosemarie mit ihrer Tür ins klare gekommen, sie sprang direkt vor den Hund, und der Übergangvon besinnungsloser Wut zu ebenso besinnungsloser Freude war rührend und komisch zugleich.
»Bello, mein Hund!« beruhigte Rosemarie. »Ja doch, es ist ja gut. Sieh, es tut mir nichts, das Automobil.« Sie streichelte abwechselnd Hund und Wagen. »Ein gutes Automobil. Ein guter Hund. Siehst du?«
»So sehr gut nicht«, sagte der Doktor trocken. »Beinahe wäre es schiefgegangen. Er sprang mir immer wieder grade vor die Räder, und die Hecke wollte nicht ausweichen. – Wieso kommt Ihr Hund hierher?«
»Er wird wohl dem Hütefritz helfen.«
»Wer ist Hütefritz?« fragte der Doktor, und etwas wie kollegiales Interesse klang in seiner Stimme mit. »Hütet er Schafe?«
»Nein, Kühe. Er ist Kuhknecht von Tamms. Er ist fast so alt wie ich und mein bester Freund.«
»So.« Des Doktors Interesse war fort. »Jedenfalls sollte er besser auf Ihren Hund aufpassen. Fast wäre er hinüber gewesen.«
»Zuerst kommen die Kühe«, klang eine Stimme aus der Hecke. Der Doktor und Rosemarie sahen auf. Ja, da war ein Gesicht mit blondem Strohdach im Gezweig, und: »Fritze, dem Philipp geht es wieder gut!« rief Rosemarie.
»Gut ist übertrieben«, sagte der Doktor. »Aber jedenfalls wird er wieder gut.«
»Rosemarie …«, sagte der Junge und zwinkerte mit den hellen Augen unverschämt auf den Doktor. »Rosemarie …«
»Du kannst alles sagen«, antwortete sie rasch. »Der Doktor weiß alles.«
Diesmal protestierte der Doktor nicht gegen solche Übertreibungen. Hütefritz sah von seinem gesicherten Standpunkt hinter der Hecke den jungen Arzt kritisch an. »Hoffentlich ist er nicht wie dein
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