Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
könnten.«
»Nein.« Stavan preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Wenn eine Frau mit irgendeinem anderen Mann außer ihrem Ehemann und Herrn schläft, geschehen schreckliche Dinge mit ihr.«
»Was für Dinge?«
Er schauderte leicht. »Das kann ich dir nicht sagen. Es ist zu furchtbar. Es hat etwas mit Ehre zu tun.« Er stand auf. »Marrah, hör mich an. Ich kann nun einmal nichts dafür, daß ich leide bei der Vorstellung, wie dich ein anderer Mann berührt. Es macht mich fast wahnsinnig. Dort, wo ich herkomme, liegen anständige Frauen einfach nicht bei Fremden. Anscheinend möchtest du, daß ich jedesmal vor Freude jauchze, wenn du in die Arme eines anderen Mannes tanzt, aber ich kann dir versprechen, daß das nicht passieren wird. Meine Liebe zu dir ist einfach zu tief. Ich bin dazu erzogen worden, das Leben auf eine ganz bestimmte Art zu sehen. Ich habe mich sehr verändert, seit wir uns begegnet sind, aber es gibt gewisse starke Gefühle in meinem Herzen, die sich niemals ändern werden. Du verstehst offenbar nicht, daß es ein schlechtes Zeichen wäre, wenn ich nicht eifersüchtig reagieren würde. Es würde bedeuten, daß ich dich nicht liebte. Aber ich liebe dich. Und wenn ein Mann meines Volkes eine Frau liebt, dann will er sie ganz für sich allein.«
Sie war gerührt über seine Aufrichtigkeit, aber auch verärgert. Warum konnte er nicht einsehen, daß er unfair war? Was er verlangte, war unmöglich. Wie konnte sie ihm versprechen, einen der heiligsten Bräuche ihres Volkes aufzugeben? Wie konnte sie einen derart wichtigen Teil ihrer Religion für irgendeinen Mann aufgeben, ganz gleich, wie sehr sie ihn liebte? Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie ausschließlich für ihn lebte, aber es schien ein sehr selbstsüchtiges Verhalten zu sein. Man lebte für sein Dorf und für seine Gemeinschaft und für die gesegnete Erde unter seinen Füßen.
Sie unterhielten sich noch lange, ohne zu einer Übereinstimmung zu kommen, nicht wütend aufeinander, sondern aufs höchste verwirrt. Schließlich schlug Marrah vor, das Gespräch abzubrechen und schlafen zu gehen. »Wir sind zu müde«, sagte sie. »Wir drehen uns nur im Kreis. Im Grunde läuft es darauf hinaus, daß ich dich liebe und du mich, und irgendwie werden wir schon eine Lösung finden.« Stavan stimmte widerstrebend zu. Sie faßten sich an den Händen, schlichen auf Zehenspitzen in das Gästezimmer und legten sich vorsichtig neben Arang nieder, der leise schnarchte.
Sie schliefen in dieser Nacht wie zwei Kinder, dicht in die Arme des anderen geschmiegt, doch selbst im Schlaf litt Stavan noch. Manchmal bewegte er die Lippen, als setzte er ihre Unterhaltung im Traum fort, und manchmal stöhnte er unterdrückt. Marrah, die ihn wirklich so innig liebte wie er sie, fühlte seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener. »Pst«, flüsterte sie beschwichtigend. »Ruhig, mein Liebling, schlaf.« Ein oder zweimal schien er sich vom Klang ihrer Stimme getröstet zu fühlen, doch kurz darauf stöhnte er erneut im Schlaf.
Marrah hätte alles gegeben, um mit Sabalah oder Mutter Asha über Stavan sprechen zu können, aber Sabalah war weit weg in Xori und Mutter Asha in Gurasoak, deshalb machte sie sich am nächsten Morgen auf die Suche nach Desta und Olva. Es war ihr peinlich, die beiden zu belästigen. Schließlich waren die beiden Königinnen für das gesamte Fest verantwortlich und hatten ohne Zweifel andere Dinge zu tun, als sich die Klagen einer jungen Frau über ihren Liebhaber anzuhören, aber die beiden Frauen waren für Marrah das, was einer Familie am nächsten kam, und so schluckte sie ihren Stolz und verbrachte den Morgen damit, sie aufzuspüren –was keine leichte Aufgabe war, da die Priesterinnen sich offensichtlich den Schlangentänzern angeschlossen hatten. Tatsächlich stand die Sonne schon hoch am Himmel, bis Marrah endlich auf die Frauen stieß, die unter einem Baum saßen und gemeinsam ihr Mittagsmahl einnahmen, wie es ihre Gewohnheit war. Sie hatten ihre Sandalen ausgezogen und verarzteten die Blasen an ihren Füßen, aber der Tanz hatte sie in heitere Stimmung versetzt, und sie begrüßten Marrah herzlich.
»Du hast völlig recht«, erwiderte Desta, nachdem Marrah ihr Problem geschildert hatte. »Du bist noch viel zu jung, um dich für einen ständigen Partner zu entscheiden, und ich bin sicher, wenn deine Mutter hier wäre, würde sie dir das gleiche sagen.«
Olva stimmte ihr zu. »Vierzehn ist kein Alter, um Versprechungen
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