Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
freien Hand. »Verzeih mir, wenn ich das sage, aber ich mag die Bräuche deines Volkes nicht.«
Sie hatte immer noch keine Ahnung, was er meinte, und sie sagte es ihm auch. »Bitte erklär dich genauer«, bat sie. »Welche Bräuche meinst du? Gibt es einen speziellen?«
Er blickte sie einen Moment lang eindringlich an und schüttelte den Kopf. »Du weißt es wirklich nicht, nicht wahr?«
»Stavan«, rief sie frustriert, »natürlich weiß ich nicht, was du meinst, sonst hätte ich ja wohl nicht gefragt! Bitte drück dich deutlich aus. Es ist für uns schon schwierig genug, uns auf shambah zu verständigen, ohne daß du aus allem ein Rätsel machen mußt. Was, im Namen der heiligen Göttin, hat dich so aufgebracht?«
»Du kannst es dir nicht vorstellen? Du hast keine Ahnung?« Er hob ihre Hand an seine Lippen und begann, langsam jeden einzelnen Finger zu küssen, als widerstrebte es ihm weiterzusprechen. Sein Gesicht hatte einen sonderbaren Ausdruck, und seine blaß-blauen Augen wirkten fast weiß im Mondschein. »Ich werde es ganz einfach ausdrücken. Hast du heute abend mit einem anderen Mann geschlafen ?«
»Mit einem anderen Mann geschlafen‹? Was meinst du damit?« Der Ausdruck war ihr fremd und ergab keinen Sinn für sie. Wie Stavan deutlich sehen konnte, war sie doch zum Tempel zurückgekommen, um hier zu schlafen.
»Ich meine, hast du ›die Lust mit einem anderen geteilt‹?« Er sprach langsam, als hätte er Mühe, die Worte hervorzubringen.
Sie war erleichtert, daß sie seine Frage endlich verstand. »Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Bist du denn nicht mit einer anderen Frau zusammengewesen? «
Abrupt ließ er ihre Hand los. »Nein, bin ich nicht.« Und dann hörte sie verwundert zu, wie er ihr erklärte, daß ihn diese sehr simple, natürliche Sache, die sie getan hatte, zutiefst verletzt hätte. Er habe sie in der Menschenmenge verloren, berichtete er, und überall nach ihr gesucht, ohne anfangs zu verstehen, daß sich die Leute, die den Schlangentanz tanzten, absichtlich aus den Augen verloren. Bald war er sich bewußt geworden, daß sich völlig Fremde in die Arme fielen und küßten, und er hatte Pärchen zusammen weggehen sehen. Und da begriff er, daß der Schlangentanz genau wie der Tanz war, den er in Hoza gesehen hatte, und er wurde halb verrückt vor Eifersucht, und immer noch konnte er Marrah nirgendwo finden. Fremde Frauen umarmten und küßten ihn, aber er stieß sie weg, und Männer hatten ihn ebenfalls umarmt, doch er kehrte all diesen Leuten brüsk den Rücken zu. Er sei suchend an der Schlange der Tanzenden entlanggegangen, erzählte er, immer auf und ab, und ihren Windungen vom einen Ende der Stadt zum anderen gefolgt, aber es wären einfach zu viele Menschen gewesen.
Nicht ein einziges Mal hatte er Marrah irgendwo entdecken können, und nach einer Weile, nachdem er die Häuser mit den Blumenketten und den Büscheln grüner Blätter gesehen und erkannt hatte, was sich im Inneren abspielte, da wurde ihm plötzlich klar, daß es zu spät war. Und so war er zum Östlichen Tempel zurückgekehrt, um auf Marrah zu warten – zuerst wütend, aber nach und nach war er zur Vernunft gekommen und hatte begriffen, daß sie nicht die Absicht hatte, ihm untreu zu sein, aber sein Verstehen hatte den Schmerz nicht gelindert.
»Ich habe wieder und wieder deinen Namen gerufen und bin wie ein Narr an der Schlange entlanggelaufen, was die Zuschauer ohne Zweifel sehr amüsiert hat. Und nach einer Weile habe ich erkannt, daß ich nur eines wollte.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und blickte ihr in die Augen, nicht zornig, sondern so zärtlich und mit so viel Liebe, daß Marrah den Drang spürte, in Tränen auszubrechen, obwohl sie noch immer nicht ganz verstand. »Mir ist klargeworden, daß ich dich für mich allein haben wollte. Ich spürte, daß ich dich haben mußte, um jeden Preis. Verstehst du, was ich sage ?«
Sie wollte ja sagen, aber ihre Verwirrung wuchs von Minute zu Minute. »Du sagst, du willst mich, und das ist wundervoll, aber ... aber ich verstehe nicht, warum du das sagst. Soweit ich es sehen kann, hast du mich doch schon – oder eher, wir haben einander. Wir sind Liebende, wir sind glücklich, wir teilen die Lust. Was könnten wir denn noch mehr voneinander haben ?«
Stavan küßte sie. »Wir könnten ein Leben haben.«
»Ein was ?« Sie blickte ihn verständnislos an.
Wieder küßte er sie. »Ich möchte dich heiraten. Ich will dich schon seit Monaten heiraten, ich
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