Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
von Itesh widerhallte. Beim Klang des Horns warfen sechs Priesterinnen ihre weißen Gewänder ab und standen einen Moment nackt da, das Gesicht dem Meer zugewandt, bevor sie sich an den Händen faßten und ins Wasser schritten, bis die Wellen ihre Brüste umspielten.
Bis zu diesem Punkt war die Zeremonie interessant gewesen, aber mehr oder weniger ähnlich wie Dutzende von anderen Zeremonien, an denen Marrah teilgenommen hatte. Doch was als nächstes geschah, war so erstaunlich, daß sie später kaum noch glauben konnte, daß sie das Ganze nicht nur geträumt hatte. Wieder blies Olva in das Horn, und beim zweiten Schmettern begann das Wasser plötzlich zu wirbeln und zu schäumen. Eine einzelne glatte schwarze Schwanzflosse erschien, pflügte durch die Wellen, dann tauchte eine zweite auf. Feuchtglänzende, schwarz-weiße Leiber sprangen in die Luft, spritzten die Priesterinnen naß und ließen sich dann wieder mit Schwung in die Wellen fallen. Die Delphine von Gira waren gekommen.
Es mußten mindestens zwanzig Tiere gewesen sein, vielleicht sogar noch mehr. Da sie täglich mit dem besten Fisch gefüttert wurden, den die Tempel von Itesh zu bieten hatten, und niemals gejagt oder in irgendeiner Weise verletzt wurden, hatten sie keine Angst vor Menschen. Übermütig umkreisten sie die nackten Frauen im Wasser, während sie sie mit ihren langen Schnauzen anstupsten und spielerisch mit den Flossen nach ihnen schlugen.
Und die Priesterinnen riefen den Delphinen zu, stießen hohe, pfeifende Töne aus, die Marrah zu imitieren versuchte. Eine nach der anderen fingen sie ein Tier ein, kletterten auf seinen Rücken und ritten auf ihm durch die aufgewühlte See. Auch Marrah gelang es, einen Delphin zu erwischen und auf ihm zu reiten, nicht weil sie besonders geschickt gewesen wäre – sie stellte sich sogar ziemlich ungeschickt an –, sondern weil das Tier Geduld mit ihr hatte und sie – wie sie später entschied – behandelte, als wäre sie ein Kind, das noch nicht richtig schwimmen konnte. Der Delphinleib war glatt und schlüpfrig, und sie rutschte mehrere Male von seinem Rücken, aber jedesmal wartete das Tier auf sie, schwamm im Kreis uni sie herum und stupste sie aufmunternd in die Seite, bis sie erneut auf seinen Rücken kletterte.
Am Strand hatte Olva inzwischen ihre Gewänder abgelegt und watete ins Meer, um die Asche der alten Yasha zu verstreuen, doch Marrah nahm kaum Notiz von diesem Teil der Zeremonie. Sie war hellauf begeistert und vollkommen gefangen von dem schaukelnden Ritt, dem Wind in ihrem nassen Haar, dem geschmeidig glatten, schwarz-weißen Delphin unter sich, der sie so schnell und dennoch so behutsam durch die Wellen trug.
Ein paar Tage später, nachdem sie Abschied von Rhoms Vettern und Kusinen genommen hatte, die nach Lezentka zurücksegelten, verließen Marrah, Stavan und Arang Gira an Bord eines Schiffes voller Obsidian, das in östlicher Richtung zum Festland fuhr. Die Flut würde erst im Laufe des Nachmittags ihren Höchststand erreichen, deshalb verzögerte sich ihre Abfahrt.
An diesem Morgen, als Marrah auf einer der Bänke vor dem Tempel saß und ungeduldig darauf wartete, daß Stavan und Arang mit getrockneten Datteln und anderen Vorräten zurückkehrten, erschienen Desta und Olva mit einem Bündel, das in weißes Leinen gewickelt war. Das Bündel enthielt eine kleine, kunstvoll dekorierte Schale, die einen Kreis tanzender Priesterinnen darstellte, umringt von Delphinen. Die zierlichen Figuren schwangen ihr schwarzes Haar genau wie die Priesterinnen in Sabalahs Lied, und die Delphine sprangen in die Luft und pflügten durch die Wellen, die über den Rand der Schale schwappten.
»Es ist ein Abschiedsgeschenk«, erklärte Olva. »Etwas, was euch an Gira erinnern soll.« Und daraufhin küßten die Königinnen Marrah auf beide Wangen, erteilten ihr ihren Segen und wünschten ihr eine gute und sichere Reise nach Shara.
10. KAPITEL
»Reist schnell, meine geliebten Kinder,
reist wohlbehalten nach Shara weiter.
Sabalahs Liebe zu euch ist süßer
als alle Honigkuchen von Kaza,
schöner als die irdenen Vasen von Hita,
mächtiger als der rauchende Berg,
der über der Bucht von Omu aufragt,
von Wolken verhüllt und mit Feuer gefüllt.«
Sabalahs Lied, Strophe
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3
-2
4
Östlich von Gira
Wieder füllte der Wind die Segel ihres Raspas, während er sie Richtung Osten über das in morgendlichem Glanz erstrahlende Meer trieb, und wieder tauchte irgendwann eine Stadt am
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