Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Horizont auf, aber Marrah lernte sie nie auf die Art kennen, wie sie Gira kennengelernt hatte. Wie so viele andere Städte, die noch kommen sollten, war die erste Stadt auf dem Festland ein Ort, den sie so rasch hinter sich ließen, daß nur ein verschwommener Eindruck zurückblieb: eine weite Bucht, ein rauchender Vulkan, ein Wirrwarr von Steinhäusern; Tempel, geschmückt mit gelben Jasminblüten, gastfreundliche Menschen, eine schnelle Reise über Land. Von dem Moment an, als sie Gira verließen, waren sie ständig unterwegs, fuhren von Omu nach Sula, von Sula nach Eringha, von Eringha nach Chutku, wo die Flüsse nach Osten in das Land der Hita flossen und in den Rauchfluß mündeten, der sich wie eine lange Wasserschlange durch das Herz der Welt ringelte.
Dank Marrahs und Arangs Pilgerhalsketten verzögerte sich ihre Weiterfahrt nur selten um mehr als ein paar Tage. Ein Blick auf die Muscheldreiecke genügte, und Fremde stellten Essen vor sie hin und boten ihnen warme Betten an und jegliche Hilfe, die sie brauchten. Ganze Dörfer versammelten sich manchmal um sie und baten darum, gesegnet zu werden, und es kam nicht selten vor, daß Marrah und Arang morgens aufwachten und feststellten, daß ihre Gastgeber still und leise Schalen mit Früchten und Blumen neben ihr Lager gestellt hatten.
Wenn Marrah in jenem Sommer überhaupt eine Art Zuhause hatte, dann war es der Umhang, in den sie sich nachts hüllte, um sich gegen die Kälte zu schützen, und Stavans Schulter, an die sie ihren Kopf lehnte. Es war aufregend, so schnell zu reisen und so viele neue Dinge zu sehen, aber auch verwirrend, und manchmal, wenn sie wieder einmal an einem völlig fremden Ort erwachte, erlebte sie das seltsame Gefühl, nicht genau zu wissen, warum sie eigentlich dort war.
Dann berührte sie jedesmal den kleinen gelben Stein, der an der Lederschnur um ihren Hals hing, und erinnerte sich daran, daß sie Marrah aus Xori war, Sabalahs Tochter, unterwegs, um das Volk ihrer Mutter zu warnen. Und danach pflegte sie beruhigt aufzustehen, zog ihr Kleid und ihre Sandalen an und machte sich auf die Suche nach Stavan, der oft schon vor ihr aufgestanden war. Sie verbrachten ein paar ruhige Minuten zusammen, um über das Wetter zu sprechen oder über die Aussichten auf Frühstück, bevor sie Arang weckten, und dann begann der Tag. Nachdem sie ihre Tragekörbe gepackt hatten, verzehrten sie, was immer ihnen angeboten wurde, bedankten sich bei ihren Gastgebern, schlossen sich wieder den Händlern an, die sie führten, und machten sich erneut auf den Weg, um erst gegen Mittag wieder eine Rast einzulegen.
Doch obwohl sie relativ schnell vorankamen, nahm Marrah sich die Zeit, die Welt zu genießen. Sie war jetzt vierzehn, und sie war lange genug gereist, um zu wissen, daß sie vielleicht nie wieder genau denselben Weg entlangkommen würde; deshalb hielt sie die Augen offen, wenn sie einen Pfad entlangwanderten oder in einem Boot an einem Dorf vorbeitrieben, und versuchte, so viel zu lernen, wie sie konnte. Wenn die jeweiligen Führer zufällig wußten, wie und wozu die heimischen Pflanzen benutzt wurden, dann ging sie häufig neben ihnen her und bat sie, ihr Wissen mit ihr zu teilen. »Im Land des Küstenvolks benutzen wir dieses Kraut hier für gebrochene Knochen«, pflegte sie zum Beispiel zu sagen, während sie ein Stückchen Ackerschachtelhalm hochhielt. »Und wozu nehmt ihr es? Wir kochen manchmal eine Suppe aus Nesseln. Ihr auch?«
Manchmal konnten sie ihr sagen, was sie wissen wollte, und manchmal auch nicht, aber eine Frage führte immer zur nächsten, und bald pflegten sie andere Dinge zu diskutieren: Welche Sitten und Gebräuche mit der Geburt von Zwillingen verbunden waren, wie heiß eine mineralische Quelle zu sein hatte, um Linderung bei schmerzenden Knochen zu bringen, welcher Ton am besten zur Herstellung von Kochtöpfen geeignet war, wie man Salz aus Meerwasser gewinnen konnte. Obwohl ihre Tage lang und ermüdend waren, waren sie niemals langweilig. Später sollte Marrah großen Nutzen aus diesen Unterhaltungen ziehen, und am Ende erwiesen sie sich als die beste Ausbildung, die eine Priesterin hätte bekommen können.
Doch jener Sommer bot noch mehr, als immer nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. In den folgenden Jahren vergaß Marrah niemals die Gebirgsdörfer von Chutku, wo nackte Frauen Ringkämpfe zu Ehren der Bärengöttin veranstalteten, oder die halbmondförmigen Wasserreservoirs von Sula, die wie eine Handvoll Mondsicheln
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