Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
schimmerten, die jemand nachlässig über die Ebene verstreut hatte. Die Welt war voller unerwarteter Schönheit und exotischer Bräuche, und Marrah reiste selten mehr als ein paar Tage, ohne etwas Denkwürdiges zu sehen.
Drei Dinge prägten sich ihr besonders nachhaltig ins Gedächtnis ein. Das erste war eine Kupfermine an einem Ort namens Shifaz. Sie trafen gegen Mittag auf die Mine, als die Sonne hoch am Himmel stand und die Felsen unter den Sohlen ihrer Sandalen brannten. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen stand in einem langen Graben und grub das Roherz mit steinernen Hämmern und Stöcken aus Hirschgeweih aus der Erde. Und dabei sangen sie, während sie ihre Werkzeuge im Rhythmus des Liedes schwangen. Ihre Gesänge waren eindringlich und schwermütig, erinnerten an das Heulen von Wölfen oder den Schrei von Vögeln, und als Marrah sie bat, eines davon in die Alte Sprache zu übersetzen, entdeckte sie, daß es eine Entschuldigung an die Göttin Erde war, ganz ähnlich der Art, wie sich ihr eigenes Volk bei Tieren entschuldigte. »Danke, Mutter Erde, daß du uns deine Knochen schenkst«, sangen die Minenarbeiter. »Vergib uns, daß wir das Kupfer nehmen, das in deinem Mutterschoß wächst.«
Rauch hüllte sie ein, während sie sangen, und die Feuer, die sie angezündet hatten, um Risse in die Felsen zu sprengen, knisterten und prasselten. Aus Tonkrügen, halb so groß wie ein Mann, gossen sie eiskaltes Wasser auf die erhitzten Felsen, um die grünen und blauen Klumpen Erz aus dem Inneren des Gesteins zu gewinnen, und als Marrah und Arang wieder aufbrachen, schenkten sie jedem von ihnen eine kleine Kupferperle, die nicht größer als ein Regentropfen war.
Der zweite denkwürdige Anblick waren die Töpferwaren von Hita. Hita war ein riesiges Gebiet, das alles umfaßte, von entlegenen kleinen Bergdörfern bis hin zu mehreren großen Städten, die am Rauchfluß lagen. Obwohl die Bewohner alle dieselbe Sprache sprachen, lebten sie auf sehr unterschiedliche Weise und befolgten viele verschiedene Bräuche. Das eine, was sie neben der Sprache gemeinsam hatten, war ein begnadetes Talent dafür, den roten und braunen Ton ihrer Heimaterde zu nehmen und ihn in Keramikgefäße zu verwandeln, so wunderschön, daß Marrah sie nur ehrfürchtig anstarren konnte, erstaunt, daß Menschen in der Lage waren, solche Schönheit zu erschaffen. Jeder Tempel, ganz gleich, wie klein, hatte eine Töpferwerkstatt, und die Priesterinnen von Hita kannten spezielle Rezepte, um Farben und Glasuren zu mischen.
Die Töpferwaren der Hitaner waren in jeder erdenklichen Form zu haben. Es gab Skulpturen von Fröschen, Schlangen, Hunden, Widdern; zeremonielle Trinkgefäße, Weinkrüge; Masken, so leicht wie Stroh; riesige Teller, zu schwer, um sie zu heben. Aber das größte Stück hitanischer Töpferkunst waren die Tempel von Takash. Takash, am Rauchfluß gelegen, war seit Generationen ein reiches Handelszentrum. Es besaß dreiundzwanzig Tempel, und jeder dieser Tempel bestand aus einem einzigen Stück glasierten Tons, viermal so hoch wie ein Mann und groß genug, um ein Dutzend Menschen aufzunehmen. Die meisten der gigantisch modellierten Tempel waren wie die Vogelgöttin geformt, mit einem schnabelähnlichen Mund, Brüsten und einer Tür, die in den »Mutterschoß« führte, aber es gab auch solche in Form einer Bärin, größer als jeder Bär, der jemals gelebt hatte, oder in Gestalt von großen Schlangen, die sich gen Himmel schlängelten, und sogar einen Wassertempel, dessen Wände in ewig grünem und blauem Glanz schimmerten wie der Rauchfluß, der zu seinen Füßen vorbeifloß.
Marrah erfuhr, daß die Tontempel von Takash von innen durch ein großes Feuer erhitzt wurden, das die feuchten Tonziegel troccnete und härtete. In späteren Jahren träumte sie oft von jenen Tempeln, die sich wie beschützende Geister über der Stadt erhoben. Später, wenn sie selbst Töpfermeisterin wäre, würde sie einen Klumpen rohen Ton in die Hand nehmen und einen Moment lang ruhig dasitzen, während sie um eine Inspiration betete, und dann würden die Tempel von Takash vor ihrem inneren Auge erscheinen, glänzend und schön. Und daraufhin würde der Ton in ihrer Hand ein eigenes Leben annehmen, und sie würde den Topf oder Becher nur führen müssen, während er wie von selbst Gestalt annahm.
Verglichen mit der Pracht der Tempel von Takash, schien das dritte großartige Ereignis ihrer Reise auf den ersten Blick überhaupt nichts zu sein. Der Anblick
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