Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
hatte nicht die dramatische Wirkung der Kupferminen von Shifaz oder die atemberaubende Schönheit einer Vogelgöttin, die groß genug war, um ein Dutzend Leute in ihrem Inneren zu beherbergen – es war lediglich ein Stück gegerbtes Leder, zwei Hände breit und drei Handbreit lang, an einem Ende ausgefranst und dünn vom häufigen Gebrauch. Eine alte Priesterin zeigte es Marrah eines Nachmittags in einem kleinen Dorf am Rauchfluß. Sie war beim Anblick ihres Einbaums auf den Bootsanleger hinausgeeilt und hatte sie ans Ufer gewinkt.
Das Leder war wie ein schlafendes Baby in ein Stück Stoff gehüllt, und die alte Priesterin rollte das Bündel feierlich auseinander. Auf dem Leder waren verschiedene Symbole zu erkennen: Dreiecke, kammähnliche Gebilde, Tupfen, Wasserlinien und so weiter, und zwar nicht zu einem speziellen Muster angeordnet, sondern willkürlich verstreut – so dachte Marrah zumindest.
»Diese hier sprechen«, sagte die alte Frau und deutete auf die Zeichen.
Marrah betrachtete sie genauer, während sie herauszufinden versuchte, was »sprechen« wohl bedeuten sollte, wenn doch offensichtlich war, daß die Symbole stumm waren. Einige, wie das Dreieck, waren vertraute Symbole für die Göttin Erde, aber der Rest hätte auch die Kritzeleien eines gelangweilten Kindes sein können.
»Danke, daß du mir dies gezeigt hast, Großmutter«, sagte Marrah höflich und machte Anstalten, zum Boot zurückzukehren.
Die alte Priesterin hielt sie am Arm zurück, lächelte ein zahnloses Lächeln, glättete das Stück Leder mit der Spitze eines Fingers und begann ein Heiler-Lied zu singen, das Marrah noch nie zuvor gehört hatte. Das Lied war in der Alten Sprache, und es beschrieb, wie man mit einer Mischung aus bestimmten Wurzeln und Blättern weinrote Muttermale auf den Gesichtern neugeborener Kinder beseitigen konnte. Marrah hörte höflich zu und fragte sich verwirrt, was das Ganze sollte, da eindeutig nirgendwo Neugeborene in Sicht waren, und als die alte Priesterin geendet hatte, bedankte sie sich noch einmal, kletterte in den Einbaum zurück, setzte ihre Fahrt den Fluß hinunter fort und vergaß den Vorfall.
Erst viele Monate später, als sie in das innere Heiligtum des Eulentempels in Shara geführt wurde und dreißig zusammengerollte Streifen aus Leder sah, jeder einzelne in seinem eigenen hölzernen Nest, begriff sie, daß ihr die alte Priesterin etwas gezeigt hatte, was sich »Handschrift« nannte. Die Priesterin hatte kein Gedenklied gesungen, wie Marrah vermutet hatte, sondern sie hatte von einer ledernen Schriftrolle abgelesen. Es war eine große Ehre gewesen, eine, die sie zu jener Zeit aus Unwissenheit nicht zu schätzen gewußt hatte; aber später, als sie im Tempel saß und mühsam die heiligen Schriften zu entziffern versuchte und dabei die Stimmen von lange verstorbenen Generationen hörte, erkannte sie, daß sie es wahrscheinlich nur ihrer Pilgerhalskette verdankte, daß sie einen flüchtigen Blick auf einen solch mächtigen Zauber hatte werfen dürfen, noch bevor sie ihr endgültiges Gelübde als Priesterin abgelegt hatte.
Aber der großartigste Anblick von allen war nicht eine Schriftrolle oder ein Tempel oder eine Kupfermine, sondern die Welt selbst. Sabalah hatte gesungen, daß das Herz der Erde im Osten lag, und jetzt sah Marrah dieses Herz mit eigenen Augen, ein pulsierendes Zentrum des Handels und der Zivilisation. Allein entlang den Ufern des Rauchflusses gab es Hunderte von Dörfern und Dutzende von großen Städten. Es gab mehr Menschen, als sie sich jemals hätte vorstellen können, und alle hatten ihre eigenen Sitten und Gebräuche, ihre eigene Art, sich zu kleiden, ihre eigene Sprache und ihre eigene Art zu beten. Nur die Göttin Erde vereinte sie alle, und selbst sie kam in vielerlei Gestalt daher. Aber ob sie als Bärin oder Schmetterling, als Fisch oder Biene angebetet wurde, wo immer die Menschen zu ihr beteten, wurden Kinder liebevoll aufgezogen, Frauen geehrt, alte Menschen respektiert, und Streitigkeiten zwischen Dörfern wurden auf friedliche Weise beigelegt.
Stavan, der mehr von der Welt gesehen hatte als Marrah, war dennoch ebenso beeindruckt wie sie. Oft, wenn sie einen Fluß hinuntertrieben und an Dörfern vorbeikamen, umgeben von grünen Weizen- und Roggenfeldern, schüttelte er verwundert den Kopf. »Wenn mein Volk hier leben würde«, sagte er zu Marrah, »dann würden sie ihr Lager nicht am Ufer des Flusses errichten, sondern oben in den Hügeln, wo sie sich
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