Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
war, sondern eine Art blauer Beize, die Teil seiner Haut zu sein schien. Die Muster waren anscheinend in sein Fleisch eingeritzt worden, aber warum sollte jemand so etwas tun? Es mußte schrecklich schmerzhaft gewesen sein.
Sie stand auf, während sie auf ihn hinunterblickte und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Armer Kerl. Ertrunken, ohne eine Schwester oder einen Bruder, um ihn zum Turm der Stille zu tragen; heimgegangen zur Mutter Erde, ohne daß Verwandte bei ihm gewesen waren, um ihm Lebewohl zu sagen.
Marrah entschied, den Toten ins Dorf zu bringen, wo er ein ordentliches Begräbnis bekommen würde. Dort würde sein Körper gewaschen und gesegnet und gesalbt werden, und wenn die Zeremonie vorbei war, würden sie ihn zu einem Turmbett tief im Inneren des Waldes bringen, wo die Vögel dafür sorgen würden, daß er zur Mutter Erde zurückkehrte. Nachdem die Vögel das Fleisch von seinen Knochen genagt hatten, würden sie seine Knochen einsammeln, sie nach Hoza bringen und dort in den Mutterschoß der Ruhe legen, wo die Gebeine seiner Vorfahren ruhten. Der alte Mann würde nicht allein schlafen müssen. Er würde unter dem Schutz der eulenäugigen Göttinnen ruhen, bis seine Seele gereinigt war und bereit, ein neues Leben in dem Körper eines kleinen Vogels zu beginnen, oder in einem Baum oder vielleicht sogar im Körper eines Menschenkindes.
Marrah sprach ein kurzes Gebet für ihn und wandte ihre Aufmerksamkeit dann praktischeren Dingen zu. Sollte sie das Boot durch das rauhe Wasser zurück zur Seeseite der Insel steuern und versuchen, den Leichnam des alten Mannes hineinzuhieven, oder sollte sie ins Dorf zurückpaddeln, um Hilfe zu holen? Sie wägte noch die Risiken des Versuchs ab, gegen die Strömung zu paddeln, als sie plötzlich etwas sah, was sie veranlaßte, verblüfft auf die Knie zu fallen, sich vorzubeugen und intensiv in das Gesicht des Mannes zu starren. Hatten seine Augenlider gerade gezuckt, oder war es nur ihre Einbildung gewesen?
Sie wartete mit angehaltenem Atem, aber es waren keine weiteren Anzeichen von Leben zu erkennen. Nun ja, das kommt davon, wenn man sich zuviel erhofft, dachte sie. Man sieht Dinge, die gar nicht da sind. Sie wollte sich gerade wieder erheben, als sie es erneut sah: eine Bewegung, so schnell und flüchtig, daß sie ihr entgangen wäre, hätte sie nicht direkt in sein Gesicht gestarrt. Er lebte tatsächlich! Sein linkes Lid hatte gezuckt, und noch während sie hinschaute, zuckte es wieder!
Aufgeregt streckte sie eine Hand aus und berührte sein Augenlid, und als sie es tat, schlug er plötzlich die Augen auf und erschreckte sie damit so sehr, daß sie mit einem Schrei zurückwich. Ein paar Sekunden lang schaute der alte Mann blicklos in den Himmel, aber nichts an ihm deutete darauf hin, daß er sie gesehen hatte.
Marrah fühlte Erleichterung in sich aufsteigen und gleich darauf Mitleid. Er lebte noch, aber er war offensichtlich blind, der arme Kerl. Seine Augen waren zwei farblose Kreise, die wie Steine im sonnenerhellten Wasser wirkten. Nun, vielleicht war »farblos« nicht ganz das richtige Wort. Sie waren blau, aber nicht von dem dunklen Blau des Ozeans, sondern von dem sehr blassen Blau eines frühmorgendlichen Himmels. Marrah hatte noch niemals solch seltsame Augen gesehen. Aber was fiel ihr eigentlich ein, hier herumzusitzen und sich über die Farbe seiner Augen zu wundern, wenn sie alles tun sollte, um das Salzwasser aus ihm herauszubekommen! Hatte sie den letzten Rest von Verstand verloren, den die Göttin ihr gegeben hatte?
Sie packte den Fremden bei den Schultern, drehte ihn auf die Seite und schlug ihm, so hart sie konnte, mit den Fäusten auf den Rücken, bis er Seewasser zu spucken begann. Dann wischte sie sich die Lippen mit einem Zipfel ihres Rockes ab, hielt sich die Nase zu und beugte sich über seinen Mund, um ihm ihren Atem einzuflößen, während sie beobachtete, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Es war keine angenehme Prozedur, aber Sabalah hatte sie gut ausgebildet, und Marrah war nicht zimperlich.
Als sie etwas Farbe in seine Wangen zurückkehren sah und fühlte, wie sich seine Brust aus eigenem Antrieb zu heben und zu senken begann, hörte sie mit der Beatmung auf und rieb eine Weile seine Handgelenke. Schließlich hockte sie sich rittlings auf ihn und beugte und streckte seine Arme, um auf diese Weise mehr Luft in seine Lungen zu pumpen. Wenn sie einen Feuerstein und etwas trockenes Holz gehabt hätte, hätte sie ein Feuer
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