Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
angezündet, um ihn zu wärmen, doch sie hatte nichts bei sich außer dem federbesetzten Cape und dem dünnen Leinenrock, und so konzentrierte sie sich weiter darauf, das Wasser aus seinem Körper herauszubekommen.
Bis sie fertig war, zitterte sie vor Erschöpfung und war in Schweiß gebadet, aber der alte Mann, obwohl noch immer bewußtlos, lebte und atmete jetzt normal. Marrah erhob sich auf die Füße, ging auf wackligen Knien zum Uferrand, kniete nieder und spritzte sich kaltes Meerwasser ins Gesicht. Dann setzte sie sich auf die Kieselsteine, vergrub ihr Gesicht in den Händen und versuchte zu verstehen, was sie gerade getan hatte.
Alles war so schnell passiert. Sie fühlte sich ausgelaugt und sonderbar, als hätte sie etwas gegessen, was ihr nicht bekommen war. Ihr Magen revoltierte, und jedesmal, wenn sie durchatmen wollte, stieg Übelkeit in ihrer Kehle auf. Irgendwo in der Nähe schrie eine Seemöwe, und die Wellen brandeten im ewig gleichen Rhythmus gegen die Felsen. Ganz allmählich legte sich ihre Benommenheit, und sie begann zu verstehen, daß sie gerade gegen den Tod gekämpft und gewonnen hatte, doch statt Triumph dabei zu empfinden, ließ sie das Wissen in einen Weinkrampf ausbrechen. Sie hatte so furchtbare Angst ausgestanden, war sich so sicher gewesen, daß sie es nicht schaffen würde, den Fremden ins Leben zurückzuholen! Was sollte sie jetzt tun, ganz allein hier draußen auf der Insel und ohne jede Hilfe? Wenn es dies war, was eine Frau zu sein bedeutete, dann hätte sie genausogut ein Mädchen bleiben können!
Nach einer Weile beruhigte sich Marrah wieder, und ihr Weinen versiegte zu einen selbstbemitleidenden Schniefen. Als sie sich mit den nackten Unterarmen die Tränen abwischte, sah sie, daß alle ihre schönen Malereien verschmiert waren. Einen Moment lang empfand sie kindliches Bedauern um die Schlange, die Sabalah so sorgfältig auf ihr Bein gemalt hatte, doch dann kehrte sie wieder in die Realität zurück und zu dem alten Mann, der auf dem Strand hinter ihr lag: der alte Mann, für den sie jetzt die Verantwortung trug, den sie ganz allein ins Dorf zurücktransportieren mußte, weil klar war, daß sie nicht das Risiko eingehen konnte, ihn lange genug allein hier liegen zu lassen, um Hilfe zu holen.
Sie ging zu ihm zurück und vergewisserte sich, daß er noch normal atmete. Er sah jetzt ein bißchen besser aus – kalt und blaß, aber nicht tot. Sie wollte ihn nicht in diesem Zustand allein lassen, doch sie hatte keine andere Wahl. Jemand mußte zur anderen Seite der Insel gehen und den Einbaum holen, und
er
würde ganz sicherlich nicht derjenige sein. Marrah blickte an den Resten ihres Festkleides herab und seufzte. An ihrem Leinenrock klebten Stücke von Seetang, und die Federn ihres wunderschönen Capes waren zerzaust und schmutzig. Sie mußte wie ein großer, nasser Vogel aussehen. Sie nahm das Cape ab, faltete es sorgfältig zusammen und schob es dem Mann unter den Kopf. Es war nicht viel, aber vielleicht würde er so etwas bequemer liegen. Dann griff sie nach dem feuchten, fleckigen Saum ihres Rockes, steckte ihn in ihren Gürtel und machte sich daran, auf die andere Seite der Insel zu klettern.
Der Einbaum lag noch an der Stelle, wo sie ihn zurückgelassen hatte, schaukelte sanft in einem kleinen Priel. Bevor sie die Schnur aufband, drehte sie sich zum Strand um und winkte mit beiden Armen und rief laut um Hilfe, obwohl sie wußte, daß sie höchstwahrscheinlich keiner über den Rhythmus der Trommeln hinweg hören würde. Im Dorf stieg Rauch aus der großen Gemeinschaftsfeuerstelle in einem ruhigen, stetigen Strom in die Luft auf, und die Leute – die auf diese Entfernung wie Ameisen aussahen – waren darum versammelt, um zu tanzen, oder saßen in kleinen Gruppen zusammen und erzählten sich den neuesten Klatsch oder spielten mit geschnitzten Knöchelchen, immer ein beliebter Zeitvertreib bei Festen.
»Hilfe!« schrie Marrah aus voller Kehle. »Seht hierher! Mama, Ama, Onkel Seme, helft mir! Ich brauche Hilfe!« Schließlich, als sie erschöpft und heiser war, gab sie den Versuch auf, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie band die Schnur las, die den Einbaum hielt, und schob ihn wütend ins Wasser. Irgendwie konnte sie nicht umhin, ihren Verwandten die Schuld daran zu geben, daß sie sie nicht bemerkten – aber andererseits, warum sollten sie? Sie rechneten ja noch eine ganze Weile nicht mit ihrer Rückkehr.
Sie tauchte ihr Paddel ins Wasser und versuchte sich daran zu
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