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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Neigung habe, alles anbrennen zu lassen. Mein Aita sagt immer, das liegt daran, weil ich zu ungeduldig bin. Mein Aita – das ist Onkel Seme – kocht eine Napfschneckenbrühe, die bestimmt genau das richtige für dich wäre. Nur bitte stirb nicht! Wenn du stirbst, bevor ich im Dorf ankomme, werde ich sehr, sehr böse werden.«
    Er sagte kein einziges Wort zur Erwiderung oder ließ irgendwie erkennen, daß er sie hörte, aber er atmete noch immer, als sie die Insel umrundete und in Richtung Festland strebte. Als sie sich dem Strand näherte, entdeckten sie einige der Kinder und begannen zu winken. Bald war der ganze Strand mit Menschen gesäumt, die fröhlich tanzten und feierten und Lieder zu Ehren Amonahs sangen. Keiner ahnte etwas von der menschlichen Fracht in Marrahs Boot. Sie sahen nur, daß sie schnell nach Hause zurückkehrte, mit kräftigen, raschen Ruderschlägen.
    »Marrah hat ihre Halskette der Kindheit zurückgelassen«, sangen die Dorfbewohner. »Sie hat sie Amonah geschenkt.«
    Ihre Halskette! Heilige Göttin, sie hatte doch tatsächlich vergessen, ihre Kindheitskette dem Meer zu übergeben! Marrah holte ihr Paddel ein und zog den Saum ihres Rockes aus ihrem Gürtel. Dort, in einen Zipfel des Stoffes geknotet, war der Strang weißer Muscheln, der der einzige Sinn und Zweck dieser Fahrt gewesen war. Ob schon jemals ein Mädchen in der Geschichte des Küstenvolks vergessen hatte, seine Kette der Göttin Amonah zu geben?
    Marrah band den Knoten mit zitternden Fingern auf, warf die Kette in ihren Schoß und saß dann einen Moment reglos da, während sie überlegte, was sie damit tun sollte. Sie konnte ganz sicherlich nicht noch einmal zu dem Strand auf der anderen Seite der Insel zurückkehren. Nicht mit einem kranken alten Mann im Boot, der aussah, als würde er jede Minute sterben.
    Impulsiv griff sie nach der Kette, schwang sie ein paarmal über ihrem Kopf und schleuderte sie aus dem Boot. Sie flog in einem weiß schimmernden Bogen, schlug auf die Wasseroberfläche auf und versank in der Tiefe. »Geliebte Göttin«, sagte Marrah, »nimm meine Kindheit und segne mich.« Es war ein kurzes Gebet, ein ganzes Stück kürzer als das eine, das sie hätte sprechen sollen, aber sie wußte, daß Amonah verstehen würde. Ein Menschenleben hatte bei der Göttin immer Vorrang. Außerdem, wenn sie jetzt noch keine Frau war, dann würde sie es wohl nie werden.
    Marah ergriff das Paddel und ruderte mit aller Kraft auf den Strand zu. Ihre Freunde und Verwandten hatten ja keine Ahnung, welche Überraschung sie ihnen bescheren würde.
     

3. KAPITEL
    »Wer ist er?«
    »Wo hast du ihn gefunden?«
    »Wie hast du ihn ganz allein ins Boot geschafft?«
    »Ist er tot?«
    Marrah ließ ihren Blick von einem Gesicht zum anderen schweifen, ohne zu wissen, welche der vielen Fragen sie zuerst beantworten sollte. Das gesamte Dorf – Männer, Frauen, Kinder und Hunde – stand in einem Halbkreis um den Einbaum, und alle blickten erstaunt auf den alten Mann, den sie von der Insel mitgebracht hatte. Die Hunde bellten aufgeregt, die Babies weinten.
    »Ist dies ein Zeichen von Amonah?«
    »Ist er ertrunken?«
    »Ist er ein Seemann?«
    »Oder ein Priester? «
    Marrah hob beschwichtigend die Hände, bat die anderen, ihr eine Chance zu geben, etwas dazu zu sagen. »Der alte Mann ist nicht tot«, rief sie. »Ich habe ihn gerettet, indem ich ihn beatmet und das Wasser aus ihm gepumpt habe.«
    »Wenn du das Leben eines Mannes rettest, dann gehört er dir«, erklärte Belaun. Belaun, neunzehn Jahre alt und seit sechs Jahren ein Mann, gehörte zu jener Art von Menschen, die es vorziehen, ihre Fischernetze immer sorgfältig zu flicken und ihre Beziehungen zu anderen korrekt zu halten. »Du wirst ihn bei dir aufnehmen müssen.«
    »Tja, ich will ihn aber nicht«, erwiderte Marrah hitzig. »Ich habe keinerlei Verwendung für ihn. Es tut mir leid um ihn, und ich hoffe, er wird am Leben bleiben, aber ich will ihn ganz sicherlich nicht in meiner Schlafecke haben! «
    Das löste große Heiterkeit bei den Dorfbewohnern aus. Marrah blickte sie böse an und warf dann einen finsteren Blick auf den Fremden auf dem Boden des Einbaums. Nachdem sie den alten Mann an Land geschafft hatte, waren ihre Gefühle für ihn schon wesentlich weniger menschenfreundlich. Er würde sicherlich nicht sterben, und in der Zwischenzeit verdarb er ihren Ehrentag! Das war wahrscheinlich der egoistischste Gedanke, der ihr jemals gekommen war, aber sie konnte nichts

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