Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Angst zu bekommen, war Stavan schon verschwunden, hatte sich so schnell und so leise durch das Gras davongeschlängelt, daß zu dem Zeitpunkt, als die Frauen in Sichtweite waren, noch nicht einmal mehr ein Grashalm zitterte, der ihn verraten hätte.
In aller Eile griff Marrah nach ihrem Korb, sprang auf die Füße, rief eine Begrüßung in gebrochenem Hansi und tat so, als sei sie damit beschäftigt, nach Pferdeäpfeln zu suchen; aber sie war innerlich so aufgewühlt, daß sie nicht viel mehr tun konnte, als im Kreis herumzugehen und ab und zu eine Weile stehenzubleiben, um sich hinzuhocken und zu warten, für den Fall, daß Stavan sie erneut finden wollte. Doch er mußte es für zu gefährlich gehalten haben, denn er ließ sich nicht wieder blicken.
Marrah bekam eine gehörige Standpauke von Timak zu hören, als sie mit einem halb leeren Korb zum Zelt zurückkehrte, doch ausnahmsweise war es ihr völlig egal. Stavan hatte nur einige wenige Worte zu ihr gesagt, aber sie wußte jetzt ohne jeden Zweifel, daß er ebensowenig verrückt war wie sie.
An jenem Abend kam Arang, um seine Schwester zu besuchen. Die Krieger hatten ihn wieder mit in die Steppe genommen und den ganzen Tag mit ihm trainiert, hatten ihn reiten und Zielschießen üben lassen, bis er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Seine Finger waren schwielig, und er war von Kopf bis Fuß mit grauem Staub bedeckt, doch als Marrah ihm von ihrer Begegnung mit Stavan erzählte, warf er den Kopf zurück und lachte froh.
»Er ist nicht verrückt?«
»Nein.«
»Dann wird er uns zur Flucht verhelfen! Hurra! « Arang umarmte seine Schwester stürmisch. »Keine Nomaden, keine Speere, keine Pferde mehr! Wie ich es verabscheue, als Krieger ausgebildet zu werden! Wie ich es hasse! «
Sie tanzten herum und lachten so übermütig, daß Timak sie argwöhnisch beäugte, aber was kümmerte es sie noch? Bald würde Timak nichts weiter als eine Erinnerung sein.
In jener Nacht brachte es noch nicht einmal Vlahan fertig, Marrah zum Weinen zu bringen. Als er schnaufend auf ihr lag, beobachtete sie ihn kalt und wie aus weiter Ferne. Er mochte zwar ihren Körper besitzen, aber ihre Seele war draußen in der Steppe bei Stavan und ritt gegen Westen nach Shara.
18. KAPITEL
Am nächsten Morgen erwachte Marrah, überzeugt, Stavan werde zu ihr kommen, sobald sie in die Sicherheit des hohen Grases eintauchte, aber sie hatte niemals Gelegenheit, sich weiter als fünfzig Schritte von Vlahans Zelt zu entfernen. Timak war übellaunig und reizbar wie eine kranke Ziege. Kaum hatte sie sich von ihrer Pritsche erhoben, da begann sie, Befehle zu brüllen; sie stieß die arme Hiknak herum, wenn sie sich nicht schnell genug bewegte, und folgte Marrah sogar nach draußen, um sicherzugehen, daß sie nicht mehr Zeit zum Verrichten ihrer Notdurft verschwendete, als unbedingt nötig. Als sie den beiden jüngeren Frauen ein Frühstück aus kalten Resten vorsetzte, befahl sie ihnen, schnell zu essen und dann die Decken zusammenzufalten und die ledernen Satteltaschen zu packen. Sie zögen in ein anderes Lager, informierte sie sie, und sie hätte nicht die Absicht, ganz am Ende der Karawane zu landen und den Staub der anderen zu schlucken, nur weil Marrah und Hiknak zwei faule Schlampen wären.
In weniger Zeit, als Marrah für möglich gehalten hätte, war das Zelt abgebaut, und die Stangen und Zeltplanen waren zu einem Schlitten umfunktioniert worden. Bald waren Vlahans sämtliche Besitztümer ordentlich eingepackt und verstaut, das Kochfeuer war gelöscht, und Timak stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und blickte ungeduldig in die Richtung der Herden. Wenn Vlahan nicht bald mit den Pferden kam, würden sie einer der letzten Haushalte sein, der sich in Bewegung setzte. Vlahan sei ein unzuverlässiger, fauler Bastard, schimpfte sie, aber wenn Marrah oder Hiknak ihm jemals verrieten, daß sie irgend etwas in der Art über ihn gesagt hätte, würde sie ihnen beiden die Leber herausreißen.
Hinter Timaks Rücken grinste Hiknak Marrah schüchtern zu, und zum ersten Mal fühlte Marrah ein Band der Sympathie mit der kleinen Konkubine. Offensichtlich freute es Hiknak, Timak so heftig auf Vlahan fluchen zu hören. Timak hatte recht; sie würden zu spät kommen. Überall im Lager bauten Frauen und Kinder in fieberhafter Eile Zelte ab und packten Bündel. Vor einige der Schlitten waren bereits Pferde gespannt, und Zuhan hatte seinen weißen Wallach bestiegen und war im Begriff, das Kommando
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