Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Vogel oder eine Pflanze, und ihre Lippen bewegten sich, und Arang nickte, und es sah aus, als wiederholte er, was sie gerade gesagt hatte; die beiden waren jedoch immer zu weit von Marrah entfernt, als daß sie sie hätte hören können. Sie versuchte, sich nicht ausgegrenzt zu fühlen, aber das war schwierig. Das Beste, was sie tun konnte, war, Arang zuzuwinken und ihm einen wissenden Blick zuzuwerfen. Es war alles sehr frustrierend, besonders am dritten Tag, als sie sicher war, sie sähe Stavan in den Staubwolken neben den Rindern hermarschieren. Es war vielleicht nur einer der älteren Jungen, doch selbst die Chance, daß er es sein könnte, erregte sie so sehr, daß sie an nichts anderes mehr dachte.
Die Krieger ritten neben und hinter der riesigen Herde, wobei sie die Tiere langsam vorwärtstrieben und Verirrten, die in die falsche Richtung zu wandern versuchten, den Weg abschnitten. Die Frauen waren angewiesen worden, ihre Pferde unter Kontrolle zu halten, und den Kindern hatte man eingeschärft, nicht laut zu rufen oder plötzliche Bewegungen zu machen. Wenn die Herde in Panik geriet und durchging, konnte es Tage dauern, um die Tiere wieder zusammenzutreiben. Am Morgen warfen alle einen prüfenden Blick auf den Himmel. Gewaltige Unwetter konnten über die Steppe hinwegfegen, die wie aus dem Nichts kamen. Viele der Pferde waren so wild, daß schon ein einziger Blitz genügte, um sie angstvoll davon-galoppieren zu lassen, und wenn die Pferde ausbrachen, flohen die Rinder oft mit ihnen. Nachts saßen die Nomaden um die Lagerfeuer und erzählten Geschichten von Stämmen, die von ihren eigenen Herden niedergetrampelt worden waren.
Aber jetzt war es Herbst, nicht Sommer. Bis auf einen Nachmittag mit Nieselregen blieb der Himmel so klar und blau wie eine Kette blauer Tonperlen, und selbst die wildesten Pferde verbrachten den Großteil der Zeit damit, friedlich Gras zu rupfen. Nur eine Sache von wirklichem Interesse passierte, als sie weiter nach Süden zogen. Eines Morgens trieb Hiknak ihr Pferd neben das von Marrah und begann zögernd zu sprechen.
»Warum kommandierst du mich nicht herum ?« fragte sie, während sie sich eine Strähne schmutzig-blondes Haar aus der Stirn strich und Marrah schüchtern anblickte.
Marrah lächelte Hiknak an und dachte, wie kindlich sie unter der schwarzen Schminke um ihre Augen aussah. Es war immer schwierig, sich daran zu erinnern, daß sie eine Frau war, obwohl Vlahan und Timak ihr schon vor langer Zeit alle kindliche Freude mit Prügeln ausgetrieben hatten. »Warum sollte ich dich herumkommandieren? Gibt Timak nicht schon genug Befehle für zehn ?« Marrah war froh, daß sie endlich genug Hansi konnte, um sich mit jemandem zu unterhalten.
»Aber du bist Vlahans Ehefrau, und ich bin nur eine Konkubine. Man erwartet von dir, daß du mich verfluchst und mir ab und zu einen Fußtritt versetzt, sonst werden die Leute glauben, daß es dir egal ist, wenn er mich in sein Bett nimmt.«
Marrah lachte. »Kleine Schwester, ich werde dir niemals Fußtritte verpassen oder dich verfluchen oder auch nur meine Stimme gegen dich erheben, wenn ich es verhindern kann, und was Vlahan betrifft, so habe ich den Verdacht, daß es uns beiden wesentlich lieber wäre, wenn der brutale Kerl sein Pferd vögeln würde statt eine von uns.«
Hiknak wurde rot und kicherte. »Laß das bloß Timak nicht hören«, warnte sie Marrah und blickte nervös in Timaks Richtung. Sie dämpfte ihre Stimme. »Sie hält ihn für einen Sexprotz, den der Himmel geschickt hat.«
Marrah war fasziniert. »Aber du weißt es besser ?«
Hiknak nickte. »Ja. Ich bin als Jungfrau zu Vlahan gekommen, genau wie du. Wenn ich mein Jungfernhäutchen nicht mehr gehabt hätte, hätten mich Zuhans Krieger zu Tode geschändet oder mich zur Sklavin gemacht. Aber ich hatte eine Freundin im Lager meines Vaters.«
»Wie war ihr Name ?«
»Sie hieß Iriknak«, erwiderte Hiknak leise. »Und sie war eine liebenswerte, zärtliche Frau. Sie war die jüngste Konkubine meines Onkels, genauso alt wie ich, mit der sanftesten Stimme und dem strahlendsten Lächeln, das du dir vorstellen kannst. Vlahan hat sie getötet, und eines Tages werde ich es ihm heimzahlen. Ich sage dir dies, weil ich gehört habe, was nachts zwischen dir und ihm vorgeht, und ich weiß, daß du ihn auch hassen mußt.« Damit trieb Hiknak ihr Pferd an und ritt davon, während Marrah sprachlos zurückblieb.
Nun, dachte sie, das sollte mir eine Lehre sein, niemals jemanden zu
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