Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
unterschätzen.
Schließlich – aus Gründen, die Marrah nie so recht verstand – kam der Stamm zu einer Stelle, wo sie für längere Zeit ihr Lager aufschlagen würden. Soweit Marrah es sehen konnte, war das Wasser hier nicht besser und das Gras nicht höher als dort, wo sie die Nacht zuvor kampiert hatten, aber alle schienen von der Wahl entzückt, und als die Frauen und Kinder die Zelte auspackten und die großen Lederbeutel leerten, breitete sich ein Gerücht im Lager aus: Hier würden sie den Winter verbringen, falls Han Changar nicht ein Zeichen schickte, um ihm zu sagen, daß sie weiterziehen sollten.
Marrah arbeitete jetzt sehr viel lieber mit Hiknak zusammen, nachdem sie die Gefühle des Mädchens für Vlahan kannte, und als die beiden unter Timaks Genörgel und mißbilligenden Blicken das Zelt aufstellten, tauschten sie verstohlene Signale des Einverständnisses und der Rebellion aus. Der Platz, den Vlahan ausgesucht hatte, lag am Rande des Lagers, und als Marrah die Zeltpflöcke in den Boden schlug, blickte sie sehnsüchtig auf das hohe Gras. Wenn sie einen unbeobachteten Moment finden könnte, um sich davonzustehlen, würde Stavan es vielleicht bemerken und ihr folgen.
Aber alles blieb nur müßige Spekulation. Das Zelt wurde aufgestellt, die Beutel ausgepackt, das Feuer angezündet, frische Pferdeäpfel wurden zum Trocknen ausgebreitet, dann wurde das Abendessen gekocht, und über all den Vorbereitungen war es dunkel geworden, ohne daß sie Stavan irgendwo hätte treffen können, außer in ihrer Phantasie. Vlahan war in der Zwischenzeit im Zelt des Großen Häuptlings verschwunden, wo er Kersek mit den anderen Kriegern trank, um die Ankunft des Stammes im Winterlager zu feiern, und zweifellos würde er betrunken und lüstern zurückkommen, und der Abend würde auf die gewohnt elende Art enden.
Leider sollte Marrah recht behalten. Sie blieben auf, um auf Vlahan zu warten, bis selbst Timak aussah, als könnte sie kaum noch die Augen offenhalten. Das Feuer verlöschte, wurde wieder angezündet und brannte ein zweites Mal nieder. Schließlich hörten sie ihn kommen. Er gröhlte etwas, vielleicht ein Hansi-Schlachtlied. Marrah schnappte die Wörter »Wolf« und »Feinde« auf, bevor er durch die Zeltklappe hereinstolperte. Als Timak ihm beim Ausziehen der Stiefel zu helfen versuchte, fluchte er wild und stieß sie weg. Dann packte er Marrah am Arm und zerrte sie in sein Bett, aber der Kersek mußte diesmal besonders stark gewesen sein oder er mußte mehr als sonst davon getrunken haben, denn statt sich auf sie zu legen, schlief er fast sofort ein.
Nun, das nenne ich eine Gnade, dachte Marrah, als sie neben ihm lag und auf sein röhrendes Schnarchen horchte. Er ist nicht nur bewußtlos, er macht auch den Eindruck, als würde er es noch eine ganze Weile bleiben. Erleichtert kehrte sie ihm den Rücken zu, schloß die Augen und versank in den ersten richtigen Schlaf seit Wochen.
Irgendwann später wachte Marrah ruckartig auf. Vlahan hatte ihr seine Hand auf den Mund gepreßt. Möge der verfluchte Kerl in der Hansi-Hölle schmoren! Warum mußte er sie Nacht für Nacht zum Sex zwingen? Sie fing an, sich gegen ihn zu wehren, obwohl sie wußte, daß es ihr nichts nützen würde. Wenn er sie aufweckte, dann sollte Timak auch ruhig wach werden. Warum sollte irgend jemand um sie herum schlafen können, wenn der Herr betrunken und lüstern war? Aber bevor sie einen Ton von sich geben konnte, rückte Vlahan näher. Es war ziemlich dunkel, doch nicht so dunkel, daß sie nicht sehen konnte, daß es nicht Vlahan war. Es war ein blondbärtiger Mann mit weißblondem Haar. Stavan!
Große Göttin! Was tat Stavan in Vlahans Zelt? Hatte er den Verstand verloren? Hinter sich, nur eine Handbreit entfernt, konnte sie Vlahan geräuschvoll schnarchen hören. Timak und Hicnak lagen nicht weit davon.
Impulsiv streckte Marrah die Arme aus, zog Stavan zu sich herunter und küßte ihn. Er erwiderte ihren Kuß, so schnell und lautlos wie ein Schatten. Seine Lippen schmeckten süß, und er roch warm und vertraut. Es war so unendlich lange her, seit sie sich das letzte Mal geküßt hatten. Vielleicht war er nur ein Traum. Vielleicht würde er sich in wenigen Sekunden in Nichts auflösen, und sie würde aufwachen, um die Sonne ins Zelt scheinen zu sehen und Timak brüllen zu hören, sie solle aufstehen und Pferdeäpfel sammeln. Aber Stavan fühlte sich nicht wie eine Traumgestalt an oder schmeckte wie eine. Es war unglaublich
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