Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Selbst die Frauen der Hansi sind mutig.«
»Natürlich sind die Frauen mutig.« Marrah blickte verdutzt.
Als er merkte, daß er sich wieder einmal auf gefährlichem Terrain bewegte, sprach er hastig weiter. »Ich habe dir schon erzählt, daß die Männer meines Volkes Krieger sind, und du hast Anstoß daran genommen, aber weißt du, wir haben einfach keine andere Wahl. Wir sind gezwungen zu kämpfen. Wir sind von Feinden umgeben, und wenn wir uns nicht verteidigten, würden wir niedergemetzelt werden. Aber wir kämpfen nicht einfach wie die Tiere. Wir haben einen Ehrenkodex. Wenn wir in einen Krieg ziehen, dann als ein Verband von Brüdern, und auch wenn es zu Hause im Lager manchmal Streitigkeiten gibt – draußen in der Steppe lieben wir einander. Mein Bruder Vlahan mag mich hassen, wenn wir um das Lagerfeuer meines Vaters sitzen, aber wenn ich von einem TcvaliKrieger angegriffen werde, wird er mich verteidigen, selbst wenn es bedeutet, daß der Tcvali einen Pfeil durch sein Herz bohrt. Wir sind absolut loyal untereinander, vielleicht das loyalste Volk auf der Welt, und wir versäumen es niemals, eine Ehrenschuld zu begleichen.«
»Zum Beispiel«, Stavan zeigte auf Marrah, »wenn du mir das Leben gerettet hättest, dann wäre ich verpflichtet, dir zu dienen und alles zu tun, was du willst, bis ich dein Leben retten und damit meines zurückgewinnen würde. Wenn du um meine Lieblingskonkubine bitten würdest oder sogar um meine Ehefrau, dann würde ich sie dir geben müssen. Du könntest sogar meinen erstgeborenen Sohn verlangen, es sei denn, er wäre der Erbe der Häuptlingswürde. Der Erbe ist heilig für Han, deshalb –«
Sie unterbrach ihn. »Was hast du gerade gesagt?«
»Ich sagte, der Erbe ist heilig für Han.«
»Nein, davor.«
»Du meinst, wenn du mir das Leben retten würdest?« »Ja, den Teil.«
Stavan lächelte. »Ich sagte, wenn du mir das Leben retten würdest, wäre ich dir meines schuldig, aber das ist natürlich nicht sehr wahrscheinlich, da du eine Frau bist und nicht –«
»Aber genau das habe ich getan.«
»Getan? Was ?«
»Ich habe dir das Leben gerettet.« Und als er sie erstaunt und mit offenem Mund anstarrte, erklärte sie es ihm.
»Du meinst,
du
bist diejenige, die mich aus dem Meer gezogen hat? Ich hatte immer angenommen, es wäre einer eurer Männer gewesen. Willst du mir damit sagen, daß
du
es warst?«
»Natürlich«, erwiderte Marrah brüsk und hoffte, sie könnten endlich das Thema wechseln, denn jetzt war sie es, die verlegen war. Sie hatte die Rettungsaktion wirklich nicht überbewerten wollen, und wenn sie daran dachte, wie grob und unfeierlich sie ihn in den Einbaum bugsiert hatte, dann war sie froh, daß er sich nicht an Einzelheiten erinnern konnte.
»Aber dann ...« Stavan sprang auf die Füße. »Dann schulde ich dir mein Leben.«
»Nein, das tust du nicht«, erwiderte sie, als ihr klar wurde, daß sie einen Fehler gemacht hatte. »Es war überhaupt nichts. Es ... na ja, es war etwas, was jeder getan hätte, und –«
Plötzlich kniete er zu ihren Füßen und erschreckte sie damit so sehr, daß sie beinahe hintenüber gefallen wäre.
»Steh auf«, bat sie. »Was tust du da ?«
»Marrah aus Xori«, sagte Stavan feierlich, »ich weiß nicht, ob ein Krieger jemals einer Frau Treue gelobt hat, aber ich tue es. Vor Han und allen Göttern schwöre ich –«
»Nein, schwör gar nichts. Steh einfach auf. Bitte. Die anderen sehen schon alle zu uns herüber.«
»– dich gegen alle Feinde zu verteidigen –« fuhr er fort.
»Ich will nicht, daß du mich verteidigst.« Marrah war gerührt über seine Ernsthaftigkeit, aber es war ihr peinlich, wie er da so vor ihr kniete und gelobte, sie zu beschützen, da sie doch nichts weiter getan hatte, als ihn ins Dorf zu bringen, damit Ama und Sabalah sich um ihn kümmern konnten. »Ich fühle mich geschmeichelt, daß du glaubst, ich hätte so viel für dich getan, aber eigentlich waren es meine Mutter und meine Urgroßmutter, die –«
»– und mein Leben für dich hinzugeben.« Stavan war nicht zu bremsen. »Mein Bogen wird dein Bogen sein und mein Speer dein Speer.« Er sprach die ältesten, heiligsten Schwüre des Volkes der Hansi, doch in Marrahs Ohren klang er wie jemand, der im Fieber phantasiert.
»Sei doch vernünftig!« rief sie, über alle Maßen aufgeregt. »Ich bin keine Jägerin. Was sollte ich mit einem Speer anfangen? Oh, bitte, ich möchte wirklich nicht deine Gefühle verletzen, aber du mußt doch
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