Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
war so liebenswürdig und einladend wie immer. »Ich habe dich vermißt«, murmelte er.
Sie beugte sich vor und brachte ihren Mund dicht an sein Ohr. »Wie wär's dann heute abend mit einem Treffen im Wald?«
Bere nickte und errötete vor Erleichterung. In Hoza gab es so viele junge Männer; die Vorstellung, wie Marrah in den Armen eines anderen lag, hatte ihm die ganze Zeit schlaflose Nächte bereitet.
Es gab weitere Begrüßungen, weitere Fragen, bis es schien, als redeten alle gleichzeitig. Ama beschrieb Mutter Ashas Gesundheitszustand (»ausgezeichnet für ihr Alter«); Gorriska und die anderen jungen Männer brüsteten sich damit, wie sie den neuen Stein der (;min aufgestellt hatten; Hunde bellten, Kinder weinten, und einen Moment hang hatte Marrah, wie betäubt durch das lärmende Chaos, das Gefühl, als fehlte nichts.
»Aber wo ist Mutter?« rief sie, als sie plötzlich bemerkte, daß Sabalah nicht zu ihrer Begrüßung gekommen war.
»Deine Mutter hat immer noch Schmerzen am Fuß«, erklärte Bere.
»Ich werde sie holen«, bot Arang sich an. Ein paar Minuten später erschien Sabalah in der Tür von Amas Langhaus, auf eine Unterarmkrücke aus Eiche gestützt, die mit Wildleder gepolstert war.
»Marrah!« rief sie erfreut, und eine Hand auf Arangs Schulter gestützt, kam sie mühsam angehumpelt, während sie ihren verletzten Fuß hinter sich herzog. Marrah, die schockiert von dem Anblick war, lief ihr entgegen. »Sieh mich nicht so erschrocken an«, sagte Sabalah, als sie ihre Tochter umarmte. »Ich liege nicht im Sterben, du dummes Mädchen. Es ist nichts. Der Dorn ist tiefer in meine Fußsohle eingedrungen, als ich dachte, deshalb braucht mein Fuß länger, um zu heilen. Keine Angst, er fällt nicht ab; er schmerzt nur.«
Sie drehte sich zu Stavan um, der hinter den anderen gestanden und die Heimkehr schweigend beobachtet hatte. »Wie ich sehe, habt ihr den Fremden wieder mit zurückgebracht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich schätze, das bedeutet, daß wir ihn weiterhin am Hals haben werden. Na ja, zumindest ist
er
inzwischen wieder auf den Beinen, der arme, häßliche Kerl.«
»Mutter«, fiel Marrah ihr ins Wort. »Er kann –«
Jetzt mischte sich Stavan ein. »Marrah wollte dir sagen, daß ich Shambah spreche.«
»Große Göttin!« rief Sabalah verdutzt, ließ ihre Krücke fallen und hockte sich auf den Rand der Feuergrube, während sie Stavan erstaunt anstarrte. »Er spricht!«
In den Tagen, die auf Marrahs Rückkehr aus Hoza folgten, geschahen zwei Dinge, die ihr Leben für immer verändern sollten: Sabalahs Fuß wurde nicht besser, und Stavan schnitzte ein neues Spielzeug für Arang. Zur Zeit schien nur der Fuß wichtig, denn als die Haut um das Loch, das der Dorn hinterlassen hatte, zu eitern begann, bekam Sabalah hohes Fieber.
»Ich mache mir große Sorgen um sie«, sagte Ama eines Abends zu Marrah, nachdem sie Sabalahs Fuß in Kräutertinkturen gewaschen und mit einer sauberen Bandage umwickelt hatte. »Sie will nicht zugeben, daß sie Schmerzen hat, aber ich habe solche Wunden schon früher gesehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Zuerst eitert das Fleisch und schwillt an, und dann fängt es an, sich schwarz zu verfärben. In einer Woche oder zehn Tagen erscheinen die roten Streifen, und wenn es erst einmal soweit gekommen ist, bleibt einem nur noch wenig Zeit, um zu entscheiden, ob man versuchen soll, den Fuß abzunehmen, oder nicht.«
Marrah runzelte die Stirn und stocherte mit einem Stock im Feuer. Sie hatte Entzündungen auf einem Pfad roter Streifen am Bein hinaufkriechen sehen, die geradewegs zum Herzen verliefen. Vier Jahre zuvor hatte sie die Lampe gehalten, während Ama und Sabalah eine junge Frau names Epala gedrängt hatten, sich von ihnen das rechte Bein abnehmen zu lassen, bevor sie an der Infection starb, aber Epala war störrisch gewesen. Überzeugt, daß die Vogelgöttin ihre Gebete erhören und sie heilen würde, hatte Epala sich geweigert, ihr Bein zu verlieren. Wie Marrah und alle anderen Einwohner von Xori wußten, lagen Epalas Knochen jetzt im Mutterschoß der Ruhe in Hoza, und ihre drei Kinder wurden von ihren Schwestern aufgezogen.
»Deine Mutter ist zu stolz«, fuhr Ama fort. »Sie verbirgt ihren Schmerz, und das ist gefährlich. Sabalah selbst hat mir einmal erzählt, daß die Göttin Erde uns Schmerzen schickt, damit wir wissen, daß etwas mit unserem Körper nicht in Ordnung ist.«
Marrah warf den Stock ins Feuer und schaute zu, wie er zu brennen begann.
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