Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
»Vielleicht sagt sie die Wahrheit«, schlug sie vor. »Vielleicht tut ihr Fuß gar nicht so weh.«
»Mach dir nichts vor, Marrah. Es wird schlimmer.«
Am nächsten Abend, als Marrah Sabalahs Verband wechselte, wußte sie, daß Ama recht hatte. Die Wunde am Fuß ihrer Mutter heilte nicht, aber zumindest war kein schwarz verfärbtes Fleisch zu sehen oder dünne rote Streifen, die auf ihr Herz zuliefen.
Während der folgenden paar Tage verbrachte Stavan viel Zeit mit Sabalah, und die Aufmerksamkeit, die er ihrer Mutter schenkte, brachte Marrah dazu, ihn mehr zu mögen, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Schweigend saß er neben ihrem Bett, immer bereit, die kühle Kompresse auf ihrer Stirn zu wechseln oder einen Schluck Wasser für sie zu holen. Sabalah trank so viel, daß niemand ihren Becher ständig gefüllt halten konnte, und das Fieber hielt unvermindert stark an.
»Die Männer meines Volkes pflegen niemals Kranke«, erklärte Stavan Marrah eines Nachmittags, als sie zusammensaßen, und seine Stimme war dabei zu einem Flüstern gesenkt, um Sabalah nicht zu wecken, die in einen unruhigen Schlaf gefallen war. »Aber mir macht das Freude.«
»Vielleicht kannst du ein Heiler sein, wenn du wieder zum Grasmeer zurückkehrst.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. In meinem Land sind nur die Wahrsager Heiler, und sie sitzen nicht am Bett von Kranken. Sie tanzen um sie herum und singen und verbrennen
wzitza,
und manchmal greifen sie in die Körper der Kranken und entfernen Steine, und alle haben Angst vor ihnen, denn wenn ein Heiler wütend auf dich wird, kann er einen Fluch über dich verhängen, der dich für den Rest deines Lebens unglücklich macht. Und wenn er fertig ist, geht er weg und überläßt es den Frauen, frisches Wasser zu holen und den Verband zu wechseln und all die Dinge zu tun, die ich für Sabalah getan habe.« Plötzlich hielt er inne und horchte mit intensiver Konzentration. »Ich glaube, ich höre sie aufwachen.« Er sprang auf die Füße.
»Ich wollte dich noch etwas fragen«, sagte Marrah und blickte Stavan einen Moment nachdenklich an. »Warum verbringst du soviel Zeit mit ihr ?«
»Weil sie deine Mutter ist.«
Marrah erkannte, daß er sein Versprechen, das er ihr auf dem Rückweg von Hoza gegeben hatte, nicht vergessen hatte. »Du brauchst nicht mir zuliebe an ihrem Bett zu sitzen. Ich bin durchaus in der Lage, mich selbst um sie zu kümmern –«
Er fiel ihr ins Wort. »Außerdem mag ich sie. Sie ist wie du: interessant.«
Es war die Wahrheit. Sabalah interessierte ihn tatsächlich, aber nachdem er einmal den Fehler gemacht hatte, Marrah von Schlachten, Sklavinnen und Konkubinen zu erzählen, achtete er sorgfältig darauf, was er ihrer Mutter erzählte. Die meiste Zeit schwieg er, doch wenn er sprach, ersparte er Sabalah Schilderungen von Kriegen und Rachefeldzügen. Statt dessen erzählte er ihr die Geschichten, die er als Kind gehört hatte.
Es gab die alte Hansi-Sage vom Sohn des Großen Häuptlings, der sich einmal in einem Schneesturm verlaufen und seinen Weg zurück ins Lager gefunden hatte, indem er die Sterne am Himmel als Schneeschuhe benutzte, die Sage von dem weisen weißen Bullen, der wie ein menschliches Wesen sprechen konnte, und die Geschichte von der Sonnenjungfrau, die in einem rot-goldenen Kleid für Han tanzte.
Wäre Sabalah gesund gewesen, dann hätte sie gemerkt, wie seltsam und fremd diese Geschichten waren, wie die Farben alle durcheinandergeworfen wurden, hätte verwundert bemerkt, daß Schwarz böse war und Weiß gut und daß Frauen nur existierten, um Männer und Götter zu erfreuen – aber die Geschichten waren unterhaltsam, und sie war zu krank, um sie auseinanderzupflücken, deshalb lag sie still da und ließ sich von Stavans Stimme einlullen, während sie nur halb auf das hörte, was er sagte. Es war lange Zeit her, seit sie irgend jemanden außer ihren eigenen Kindern hatte Sharan sprechen hören – beziehungsweise eine Sprache, die Sharan so ähnlich war, daß kaum ein Unterschied bestand –, und sie empfand es irgendwie als beruhigend, wenn sie die vertrauten Worte von Stavans Lippen hörte. Statt ihm zuzuhören, verbrachte sie die Zeit häufig damit, sich an ihre Jugend zurückzuerinnern, an ihre Mutter und all die Freunde, die sie damals zurückgelassen hatte.
Dann, eines Tages, als fast alle Bewohner des Langhauses draußen waren, um bei der Suche nach einigen vermißten Ziegen zu helfen, brachte Arang seiner
Weitere Kostenlose Bücher