Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
kleinerer, ungefähr von der Größe, die ein Kind in Arangs Alter tragen konnte.
Offensichtlich ging das Packen in aller Eile vonstatten, da Päckchen mit getrockneten Früchten und Dörrfleisch überall auf dem Fußboden verstreut lagen, dazwischen Wasserbeutel aus Ziegenleder, Feuersteine, zusätzliche Kopfriemen und mehrere andere fest verschnürte Bündel, die wahrscheinlich Tauschwaren enthielten.
»Willkommen im Haus des Chaos«, rief der Mann fröhlich, als er Marrah sah. Er ließ achtlos den Korb zu Boden fallen, den er gerade gepackt hatte, und eilte quer durch den Raum auf sie zu, und bevor sie wußte, was geschah, kniete er nieder, küßte ihre Hand und erhob sich wieder, und alles das mit so anmutigen Bewegungen, daß es wie ein Tanz wirkte. »Ich bin Rhom aus Lezentka, dem schönsten Dorf an der Küste des Blauen Meers, begünstigt von der Göttin und erwärmt von der Sonne, wo die Delphine tanzen und die Luft wie Honig duftet. Du mußt Marrah aus Xori sein, die in heiliger Mission nach Süden reist – Marrah mit den dunklen Augen, die das Herz jedes Mannes erobern wird, der ihren Weg kreuzt.«
Marrah lachte und wandte sich an die Frauen. »Redet er immer so?«
»Immer«, antwortete eine von ihnen. Sie sprach langsam, mit einem schwerfälligen Akzent. »Er ist so aufgeblasen und redet so hochtrabend daher wie kein anderer, dem du jemals begegnen wirst. Kümmere dich einfach nicht um ihn, dann wird er sich früher oder später ein anderes Opfer suchen.«
Rhom grinste. »Meine lieben Schwestern haben leider kein Gefühl für Poesie.« Er wies mit einer Handbewegung auf sie. »Erlaube mir, dir Zastra und Shema vorzustellen, zwei der praktischsten Frauen, die jemals den Wald bezwungen haben.«
Zu Marrahs Überraschung hörten die Frauen sofort mit Packen auf und eilten durch den Raum, um ihr die Hand zu küssen. Handküsse sind anscheinend Brauch im Süden, entschied Marrah.
»Möge ihr Friede mit dir sein«, sagten Zastra und Shema höflich, wobei ihnen die Wortendungen auf eine Art über die Lippen flossen, wie Marrah es noch nie zuvor gehört hatte. Sie waren eindeutig Schwestern, groß und breitschultrig, mit kräftigen Armen und Beinen, die stark genug aussahen, um doppelt so schwere Körbe zu tragen wie die, die sie gerade packten. Beide trugen ihr Haar aus der Stirn zurückgekämmt und zu einer Krone auf dem Kopf geflochten, und beide hatten die gleichen flachen Nasen und klaren braunen Augen. Bis auf die Tatsache, daß Zastra offensichtlich einige Jahre älter als Shema war, hätten sie Zwillinge sein können.
Rhom war dagegen feinknochig und dünn, mit dunklen Augen, graziösen Händen und kleinen Füßen. Alles an ihm kam Marrah exotisch vor, von dem fein bestickten Leinentuch, das er um die Taille gebunden trug, bis zu dem raffinierten Flechtmuster seiner Sandalen. Wenn er nicht die gleiche flache Nase wie seine Schwestern gehabt hätte, hätte sie Mühe gehabt zu glauben, daß die drei verwandt waren. Sie fragte sich, wie ein so zierlicher Mann es geschafft hatte, einen schweren Korb voller Waren den ganzen weiten Weg vom einen Meer zum anderen zu schleppen. Rhom sah aus, als würde er schon unter einem mittelgroßen Armvoll Feuerholz zusammenbrechen.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, ging er durch den Raum und hob einen der Tragekörbe auf. »Der hier ist für dich«, sagte er und bedeutete ihr mit einer Geste, sich herumzudrehen, damit er ihr mit den Trageriemen helfen konnte. Da er den Korb mit einer Hand hob, nahm sie an, daß er fast leer war, doch als er ihn ihr auf den Rücken schnallte, war er so schwer, daß sie taumelte und beinahe nach hinten gekippt wäre.
Shema fing sie auf und half ihr, den Korb abzunehmen. »Ich habe Rhom gesagt, daß er zu schwer für dich sein würde, aber er hört ja nie auf mich.« Sie tätschelte mitfühlend Marrahs Arm. »Mach dir keine Sorgen, kleine Schwester. Wir werden dir und deinem Bruder Anfänger-Körbe beschaffen. Der Riese, der mit euch reist, kann eine volle Fuhre tragen, und alles, was ihr tragen müßt, sind die Federcapes und die Vogelmasken und eure eigenen Vorräte.« Zastra und Rhom nickten zustimmend.
Marrahs Stolz bekam einen Dämpfer, aber sie war klug genug, um nicht zu widersprechen. Sie betrachtete Rhom mit neuem Respekt. Sie hatte immer geglaubt, sie wäre kräftig für ihre Größe, aber verglichen mit Rhom und seinen Schwestern war sie ein Schwächling.
Am nächsten Morgen brach die sechsköpfige Reisegruppe von
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