Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
für falsch halten, den Körper der Göttin Erde aufzuschneiden und Samen in sie zu pflanzen, und ich habe erfahren, daß manchmal Gruppen von ihnen in die Siedlungen im Landesinneren kommen und die Dorfmütter bitten, keinen Ackerbau mehr zu betreiben.«
»Sind sie gefährlich?« wollte Marrah wissen. Es war eine Frage, die ihr niemals in den Sinn gekommen wäre, bevor sie Stavan begegnet war.
Mutter Asha schüttelte den Kopf. »Nein, nur die wilden Tiere sind gefährlich. Im Wald gibt es Löwen. Vor zwei Jahren wurde ein Händler von Löwen getötet. Er marschierte am Ende der Kolonne, war ein Stück hinter die anderen zurückgefallen, und eine Löwin schlich sich an ihn heran und überwältigte ihn so schnell, daß er noch nicht einmal Zeit zum Schreien hatte. Später versuchte sie es erneut, aber diesmal waren die Händler auf den Angriff vorbereitet, und es gelang ihnen, sie in die Flucht zu schlagen. Solche Dinge geschehen zwar nicht oft, aber trotzdem solltet ihr niemals euer Lager aufschlagen, ohne ein Feuer anzuzünden.«
Plötzlich fiel ihr ein, daß sie Marrah mit ihrer Schilderung wahrscheinlich Angst einflößte, von dem Jungen ganz zu schweigen, der jetzt schon verängstigt genug aussah. Das war das Problem, wenn man die ganze Zeit zu Hause hockte. Man vergaß dabei, daß die Leute, die tatsächlich durch den Wald gehen mußten, vielleicht nicht unbedingt wissen wollten, welche Gefahren auf sie lauerten. Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln.
»Und wie schon gesagt, das Waldvolk ist nicht im geringsten gefährlich. Sie halten zwar nichts von unserer Lebensweise, aber sie tolerieren sie. Wie wir, so verehren auch sie die Göttin Erde und respektieren ihre Gebote. Es ist nur so, daß ihre Vorstellung von Liebe manchmal verlangt, daß sie dich auffordern, dich zu setzen und dir eine lange Rede darüber anzuhören, um wieviel glücklicher du wärst, wenn du der Lebensweise der Vorfahren folgen würdest. Aber ich bin mir nicht sicher, ob du sie überhaupt jemals zu sehen bekommen wirst. Das Waldgebiet ist riesig, und sie neigen dazu, jeden Kontakt mit der Außenwelt zu vermeiden. Früher dachte ich, es läge daran, weil sie scheu wären, aber ein Händler erzählte mir kürzlich den wahren Grund für ihr Verhalten: Sie finden, wir riechen schlecht, weil wir so viel Milch und Käse essen.«
Marrah blickte verwirrt. »Im Lied meiner Mutter kommt aber keinerlei Waldvolk vor.«
Mutter Asha schmunzelte. »Das überrascht mich nicht. Sabalah hätte es bestimmt nicht gefallen, wie ein Becher saurer Milch behandelt zu werden. Vielleicht hat sie entschieden, die Leute des Waldvolks nicht zu ehren, indem sie sie in ihr Lied aufnimmt, oder vielleicht ist sie ihnen auch nie begegnet. Wie ich schon sagte, der Wald erstreckt sich mehrere Wochenreisen lang in alle Richtungen. Mehr als eine Gruppe von Händlern ist schon zwischen hier und dem Blauen Meer spurlos verschwunden. Tatsächlich ist es erst fünf Jahre her, daß –« Sie brach abrupt ab, als sie erneut begriff, daß einige Dinge am besten unausgesprochen blieben.
»Aber kümmert euch nicht um all das. Alles in allem ist die Landroute immer noch am besten. Es ist kein mühsamer Weg, wirklich nicht, und er ist gut markiert und verläuft den größten Teil der Strecke eben. Es heißt, der Fluß verzweige sich sechsmal. Ich weiß nicht, welcher Gabelung ihr folgen müßt, um zu den Höhlen von Nar zu kommen, aber das werden die Händler wissen, auch wenn sie noch nicht selbst dort gewesen sind. Die Höhlen werden oft von Pilgern aufgesucht, um den Segen der Priesterinnen zu erbitten.« Sie seufzte. »Ich beneide euch wirklich. Was auch immer sie euch geben werden, wird von unschätzbarem Wert sein.«
Sie fühlte sich auf einmal erschöpft, als hätte sie ihre Pflicht erfüllt, aber sie konnte Sabalahs Kinder nicht wegschicken, ohne ihnen ihren endgültigen Segen zu erteilen. Als sie in den bestickten Lederbeutel griff, der von einer Armstütze der Sänfte herunterhing, zog sie zwei kleine Muschelhalsketten heraus und hielt sie einen Moment lang nachdenklich in der Hand. Die Halsketten waren ähnlich wie die, die Kinder trugen, außer daß diese hier mit einem kleinen dreieckigen Muschelanhänger verziert waren.
»Kommt her und laß mich euch diese Ketten umlegen. Es sind Pilgerhalsketten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihr sie in Xori schon einmal gesehen habt, weil es kein Ort ist, den Pilger aufsuchen. Aber östlich von hier werden die Leute nur
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